“Es fällt schwer, auf geliebte Denkmuster zu verzichten”

Da sind wir nun also mitten in der Debatte über die Errungenschaften der 68er-Revolte. Ausgangspunkt war der Text „Die Väter der 68er„, in dem der Historiker Götz Aly Parallelen zwischen den Generationen ’33 und ’68 thematisiert. Die Politologen Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth antworteten: „Keinerlei Ähnlichkeit. Die Parallelisierung von 1933 und 1968 – Ein Binsenirrtum!“

Vierzig Jahre nach 1968 reichen vielleicht, um diese Zeit, die Revolte, ihre Folgen und Errungenschaften auszuleuchten. Hier im FR-Blog wurde zum Aly-Text bereits diskutiert

Heinrich:

Alys Methode ist die Analogiebildung. Mich stört dabei nicht das Provokante oder Polemische an seinen Thesen, sofern sie irgend erkenntnisträchtig sind, und das sind sie nach meinem Urteil eben allenfalls sehr rudimentär. Mit anderen Worten: Der Vergleich schüttet mehr zu als er eröffnet, eine getrennte Erörterung des Aufkommens des Faschismus und der 68er Bewegung hätte tiefere und breitere Erkenntnisse darüber zeitigen können.
So oder so: Die „jugendliche Bewegung“, die den Aufstieg der NS bewirkte, bestand in erster Linie eben nicht aus der jungen akademischen Intelligenz, sondern aus den subproletarischen Mordgesellen der SA. Erst als die Macht gefestigt war und Hitler die SA den Reichswehrgeneralen opfern musste, um sie für seine Wehrmacht zu gewinnen, kamen die bürgerlichen jungen Männer für ihre SS-Karrieren zum Zuge.
Diese ganze „Bewegung“ war tatsächlich im wesentlichen auf Aufstieg, Teilhabe an der Macht und Karriere orientiert, für die Formulierung der (un-)politischen Ziele wurden möglichst inhaltsleere Floskeln verwendet, wie „Wiedererrichtung der Größe Deutschlands“, „keine Klassen und Stände mehr“ und, schon deutlicher und bedrohlicher, wenn auch vollkommen irrational, „den Juden das freche Lügenmaul stopfen“ und der Kampf gegen den Marxismus.

Klaus-Michael Bull:

Ich finde es als „gelernter Ostdeutscher“ interessant, mit welchem prompten Reflex und welcher Verve in diesem Blog auf die provokanten Thesen Götz Alys reagiert wird. Es fällt offenbar schwer, auf geliebte Denkmuster zu verzichten bzw. die Denkmäler der Jugend ihres Goldglanzes beraubt zu sehen.
Im übrigen sei noch darauf verwiesen, daß sich auch der liberale Historiker Fritz Stern – nachzulesen in seiner bemerkenswerten Autobiographie „Fünf Deutschland und ein Leben“ – angesichts der intellektuellen Intoleranz der protestierenden Studenten in den USA an die nationalsozialistischen Studenten in seiner Heimat Breslau erinnert fühlte. Hier wie dort ging es gegen die „Scheißliberalen“.

Michael Scheuermann:

An Aly’s Thesen ist jede Menge dran
Aly ist zu danken, dass er den Mut hat, eine überfällige Debatte zu eröffnen, die bei uns bis dato gar nicht möglich war, weil Kritik mit moralischen Totschlag-Argumenten („Faschist“) bislang erfolgreich im Keim erstickt worden ist. So geriet die 30jährige Jubelfeier (1998) zum großen Bahnhof für die Errungenschaften der „Revolutionäre“, mehr war in diesem Land, anders als in Frankreich, nicht drin.
Dass es mit den vielgepriesenen Errungenschaften der 68er soweit nicht her ist, verdeutlicht unter anderem ein Blick auf die Bildungssituation im Lande, auf den aufgeblähten bürokratischen Sozialstaat sowie die allenthalben greifbare volks- und betriebswirtschaftliche Ignoranz. Hier haben die 68er einen Scherbenhaufen hinterlassen, auf den die meisten der Angehörigen dieser Generation sich auch noch viel einbilden, alldieweil die Generation der Söhne die Scherben beseitigen und mit den Erträgen dieser undankbaren Arbeit die revolutionär gesinnten Väter nähren darf.
Meine Erfahrung ist, dass die saturierten 68er Pensionäre bei ihrer liebgewordenen Ideologie unverbesserlich verharren. Die wenigsten, die besten, distanzieren sich davon.
In dieser Situation ist Aly’s Fanfarenstoß hilfreich, eine wertvolle Initalzündung für die überfällige Verlust-Gewinn-Rechnung.
Auch im Namen der bislang totgeschwiegenen, niedergeschrieenen Opfer dieser Generation wäre eine unvoreingenommene Bilanz überfällig. Dass das kein schmerzfreies Unternehmen wird, ist bei dem Ideologiepotential der Betroffenen klar – siehe die meisten der Leserbriefe und Blogposts, deren Schäumen vor allem eines sinnenfällig macht: An Aly’s Thesen ist offenbar jede Menge dran.

Abraham:

Mich hat vor allem Heinrichs Kritik an Aly überzeugt, dass dieser bei den von ihn festgestellten „Paralelitäten“ zwischen 33ern und 68ern (über die sich meiner Meinung nach trotzdem nachzudenken lohnt) auch die wesentlichen Unterschiede hätte klar machen müssen.
Was mich an manchen Diskutanten (und auch an dem meiner Meinung nach recht schwachem Beitrag von Grottian, Narr und Roth) stört, ist der beleidigte Ton und der Furor, mit dem Aly als ein Häretiker ins Eck gestellt wird. Wieso hat sich Aly als Historiker „wissenschaftlich erledigt“ wenn er aus einer historisch durchaus korrekten Darstellung der „Jugendbewegung“ beim Erfolg des NS-Regimes politisch falsche Schlüsse in Bezug auf die 68er zieht? Sein „Fach“, an dem seine wissenschaftliche Leistung gemessen wird, ist die Nazi-Zeit, nicht die Studentenbewegung von 68.
Mir sind Häretiker sympatisch, weil sie zum Überdenken der bekannten Argumente zwingen, auch wenn sie Unrecht haben. Ein bisschen mehr Gelassenheit täte dieser Diskussion gut.
Dass die FR Alys Artikel zur Diskussion gestellt hat, finde ich gut (gerade solche Diskussionen sollte man nich der FAZ überlassen).

Zum Schluss noch ein Leserbrief von Sören Fröhlich, Bad König:

„Aufgeregt wird sich, ist ja klar. Verständlich, dass sich die selbsternannte Linkselite für ihr ach so ungebrochen kritisches Denken auf die Schulter und Götz Aly traumatisiert auf seine vermeintlich verblendeten Schreibfinger klopft.
Aber sehen wir es doch einmal ganz klar: Strukturalistisch argumentiert hat Aly vollkommen Recht. Angenehm ist das nicht, was er da sagt, und eine Herausforderung für die von Professor Knopf und anderen propagierte Popgeschichte allemal. Die Reflexionstiefe der zeitgeschichtlichen Diskussion jenseits der momentan visuell aufbereiteten Geistespfützen zu vertiefen, scheint aber leider nicht drin.
Nun gut, dann eben kurz und knapp. Alys These bezieht sich weder auf die momentane Situation, weswegen die Anspielungen auf Tagespolitik das Thema komplett verfehlen. Reflexartig-verkrampfte links-rechts Kampfreden sind ebenso redundant wie überholt. Denn die Grundaussage ist richtig: Beide Bewegungen benutzten dieselben rhetorischen Mittel, beide verfolgten ähnlich revolutionäre Ziele. Merke, niemand spricht von ähnlichen Zielen, sondern von der geistigen Stoßrichtung, nicht von Umsetzungen, Plänen und Vorgehen, sondern vom diskursiven Ansatz beider ideologischer Bewegungen.
Es ist nicht einfach, sich von eigenen politischen Positionen zu lösen, zugunsten einer sachlichen Diskursanalyse. Sich mit Alys Ontologie auseinanderzusetzen wäre jedoch sinnvoller, als mit der Attac-Pauke durch die Gassen zu ziehen. Sachlicher macht das die Diskussion nicht.“

Update 12. Februar: Heute erschien in der FR ein weiterer Text zur 68er-Thematik: „Scham und Schweigen“ von Beate Schappach und Andreas Schwab. Gibt es unter den Blog-Diskuttanten ZeugInnen des „Busenattentats“ auf Adorno?

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189 Kommentare zu ““Es fällt schwer, auf geliebte Denkmuster zu verzichten”

  1. „“Es fällt schwer, auf geliebte Denkmuster zu verzichten““

    Das kann man wohl sagen. Und wenn sowas zum zweiten Mal eingestellt wird, Herr Scheuermann, dann kann man, auch zum zweiten Mal entgegnen:

    @ Michael Scheuermann

    (B..)

    1) Aly ist hier von niemandem Faschist genannt worden, sondern – allenfalls – richtigerweise (bürgerlicher) Revisionist.

    2) 1998 gab es keine 68er-Jubelfeier. Sollte ich sie verpasst haben, belegen Sie sie mir.

    3) Ludwig von Friedeburg hat im Geiste der 68er ein fortschrittliches Bildungswesen eingeführt, dass mit einer Frau Wolff spatestens wieder liquidiert worden ist; die ist keine 68erin. – Falls sie den Neoliberalismus für ein Projekt der 68er halten, dann können Sie in mir den Präsidenten der EZB sehen. usw. usw.

    4) Vielleicht machen Sie mich mal mit Ihrem 68er-Vater bekannt, dann kann ich mit ihm so eine verwerfliche Jubelpartie feiern, das tröstete ihn dann über den (ideelllen) Verlust seines Sohnes vielleicht hinweg.

    5) Die einzigen Gewinn-und-Verlustrechnungen die gemacht werden , sind die des Kapitals. Wer da gewinnt, ist bekannt, die Verlierer auch. Dass Sie hier die 68er-Bewegung noch in diese Rechnung einführen wollen, passt.

    Ansonsten verweise ich – genauso erneut auf

    „Warum die Tomaten fliegen“
    Von Gerhard Ziegler

    der in der FR schon einmal die Ursprünge der Studentenbewegung analysiert hat als alle Alys in neuerer Zeit zusammenzusammen – wenn man denn zur Diskussion in diesem Blog eine „neue“ Textgrundlage einführen wollte:

    Zu lesen hier:

    http://www.frblog.de/aly/#comment-18342

    oder hier

    http://www.fr-online.de/1968_tag/?date=1968-02-09&mon=02

    im PDF auf Seite 3 der FR vom 09.02.68

  2. Hallo Bronski,
    ich war ein paar Tage unterwegs und habe den Artikel von Götz Aly und den Reaktionen erst später nachlesen können. Ich gebe Ihnen recht, dass es auch provokante Thesen geben muss. Was mich sehr gestört hat, war die Aufmachung des Artikels (Bild mit Überschrift) was mich an Bild-Zeitungsjounalismus erinnert hat. Wenn ein solcher Artikel erscheint, dem die FR selber kritisch gegenübersteht, sollte dies auch kenntlich gemacht werden. Ich habe Schülern den Artikel gezeigt, die nicht regelmäßig die FR lesen. Für sie wurde nicht deutlich, dass es sich hierbei nicht um die Meinung der FR handelte. Ich fände es sehr schade, wenn die FR durch solche Beiträge in der Außenwirkung falsch beurteilt wird.
    MfG
    H. Hoffmann

  3. Nachdem der erste Zorn sich gelegt hat:

    Frage an Bronski:

    Was bitte sehen Sie an herrn Scheuermanns Beitrag, dass inhn auf ein Niveau stellte mit etwa abrahams Texten? – Glauben Sie llen ernstes, man könne Scheuermanns Polemik viel anders als mit Polemik begegnen. – Das kann wohl nicht der Sinn eines Blog seins.

    Ratlos

    ####

    Korrektur zum Schlussatz in #1: Es muss heißen

    „Ansonsten verweise ich – genauso erneut auf

    „Warum die Tomaten fliegen“
    Von Gerhard Ziegler

    der in der FR schon einmal die Ursprünge der Studentenbewegung analysiert hat, besser als alle Alys in neuerer Zeit zusammen – …“

  4. @ Hartmut Hoffmann

    Da haben Sie völlig Recht. In der Außenwirkung musste das so rüberkommen, als wäre die FR der Meinung von Götz Aly. Das ist ein fataler Eindruck, der den Verantwortlichen sehr leid tut.

    @ Fiasco

    Nein, war keine Absicht. Der Thread ist wieder offen.

    @ 68er

    Dann polemisieren Sie doch!

  5. Danke Bronski für Ihre Antwort:

    es freut sich, dass wir uns im Begriff der Polemik mit seiner Bedeutung Nr. [1]

    Polemik:

    [1] öffentlicher, meist scharfer, trotzdem auch sachlicher Meinungsstreit im Rahmen politischer, literarischer oder wissenschaftlicher Diskussionen.
    [2] unsachlicher Angriff

    einig zu sein scheinen. Trotzdem bleibt meine Frage aber bestehen, da ich Herrn Scheuermanns Beitrag nur im Sinne von Bedeutung Nr. [2] sehen kann, und solche Beiträge wären lt. Blogregel nicht ok.

  6. Da mein Kommentar oben erscheint, verbietet es sich mir eigentlich, die Platzierung eines anderen Kommentars dort zu kritisieren, die ich allerdings gleichwohl nicht verstehe.

    Der Beitrag von M. Scheuermann ist nicht einmal polemisch diskutierbar, weil er schlechterdings nichts als gedanklichen Müll enthält.
    Die Sätze, denen man überhaupt ansatzweise so etwas wie Sinn entlocken kann, sind wirre Behauptungen, von denen ohne nähere Begründungen, die allerdings schwer fallen durften, völlig unklar ist, was die 86er damit zu tun haben sollten.

    Ich diskutiere gerne auch polemisch, aber immer mit kühlerem Kopf, als es manchmal erscheinen mag. Allerdings gibt es bestimmte Reizwörter, bei denen mir der Kampf schwillt. dazu gehören die „Antisemitismuskeule“ und das „moralische Totschagargument’Faschist'“.
    Es sind nämlich allemal die Antisemiten, welche die Keule schwingen, und nicht diejenigen, die sich des Antisemitismus erwehren, und die Faschisten sind die Totschläger, und nicht diejenigen, die gegen den Faschismus argumentieren.
    Herr Scheuermann möge seinen geistigen Unrat woanders abladen, damit hier nicht jemand in Versuchung gerät, darin herumzurühren.

    Liebe Susanne, danke für die freundliche Begrüßung und Zustimmung. Es freut mich jedenfalls so zu erfahren, dass die Kommentare von dir positiv wahrgenommen worden sind. Ich kann Kritik nämlich gut vertragen, es sei denn, es handele sich nicht um Lob.

    Beim nochmaligen Nachschauen, was daran besonders sein könnte, fiel mir allerdings auf, dass ein Teil meines Kommentars nicht veröffentlicht bzw. irrtümlich gelöscht worden ist. Ich gebe ihn daher in der Folge nochmals zur Kenntnis. Auf deine Gedanken will ich ggf. später noch eingehen.

    Grüße
    Heinrich

  7. Man könnte den Beitrag von Götz Aly abtun als einen der missratenen „Experten“-Kommentare, die in der FR in jüngerer Zeit gehäuft erscheinen. Tatsächlich ist er mehr als das: Hier droht eine Chance vertan worden zu sein, die Die FR hoffentlich bald durch kontradiktorische Würdigungen der 68er ausgleichen möge.

    Damit ist von mir als Beteiligtem der „Bewegung“ keineswegs der Wunsch nach kritikloser und nostalgischer Schönfärberei verbunden, sondern im Gegenteil der nach „Aufarbeitung“, und das bedeutet nach den Worten, die Joachim Gauck jüngst in einer Diskussion über die DDR-Vergangenheit gesprochen hat, „dass wir uns trauen dorthin zu gehen, wo Erinnerung weh tut. Diese Erinnerung hat mit Trauer und Scham zu tun.“

    Solche Trauer und Scham müssen wir z.B. tatsächlich empfinden angesichts so mancher Leichtgläubigkeit und Affinität gegenüber totalitären Konzepten und zumal der Akzeptanz von Gewalt, die sich nur zum Teil aus der Gegenreaktion gegen die Fratze erklärt, die der Staat uns bei unseren zunächst friedlichen Demonstrationen gezeigt hat.

    Diese Aspekte klingen in Alys Text an, sind aber leider völlig überlagert von seiner unseligen NS-Analogie.

    Viel mehr zu denken gegeben haben mir in dieser Hinsicht die Beiträge in dem Dossier zum Deutschen Herbst in der FR. Man kann da ja auch mal etwas lobend hervorheben.

    So der Psychoanalytiker Micha Hilgers, in dieser Hinsicht nah an Aly:
    „Doch tatsächlich trat die RAF in Sprache, interner Kommunikation und Handlung die unbewusste Nachfolge von Eltern und Großeltern an.“

    oder Stephan Hebel:
    „Baader, Ensslin und andere haben den moralischen Kern dessen, wofür zu kämpfen sie vorgaben, zum Vorwand für eine maßlose Anmaßung pervertiert. (…) all das war ihnen nicht mehr als billige Rechtfertigung für Entführung und Mord.“

    oder „Arno Widmann“:

    „Es gab eine Kultur und es gab einen Kult der Gewalt.“

    http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/dossiers/spezial_deutscher_herbst

    Wir „68er“ sind aufgerufen, uns auch und gerade dadurch von der Vätergeneration zu unterscheiden, dass wir uns schmerzvoll auch unsere Fehler bewusst machen, uns gegenüber den Nachgeborenen dazu bekennen und sie freimütig mit ihnen zu besprechen, statt die großen Helden oder die schuldlosen Verdränger zu geben.

    In diese Richtung wollte der 68er Götz Aly wohl gehen – und kam leider ein wenig weit vom Wege ab.

  8. Für mich sind die beiden Fotos in der Erwiderung auf den Alybeitrag die besten Zeugen:

    Auf der einen Seite die strammstehenden, in einer Linie ausgerichteten und die Fahne beachtenden HJ Buben von 1933 und dann die Kinder im 1968er Kinderladen, unaufgeräumt, allein gelassen wirkend und bar jeglicher Disziplinanforderung.

    Hier drücken wieder einmal Bilder mehr aus als alle 1000 Worte.

  9. Heinrich, auch wenn wieles schon gesagt wurde, kannst Du zu meiner Frage zurück kommen: Wie weit konnten die 68er von den von Aly angesprochenen „Paralellen“ Ahnung haben? Ist das meiste, was an Analysen des Nationalsozialismus publiziert wurde, nicht erst später veröffentlich bzw. ins öffentliche Bewustsein gekommen?

  10. @ 9. Walthor

    Ich wage Ihren Beitrag nicht zu verstehen.

    Meinen Sie tatsächlich, dass das Bild der Kita-Kinder das Versagen derer Elterngenearation dokumentiert („allein gelassen wirkend und bar jeglicher Disziplinanforderung“)?

    Versteheh ich Sie richtig, wenn ich sagte, dass Dieses Bild zusammen mit dem anderen Zeugnis abgibt, dass die Vätergeneration der 33er, die die Vätergeneration der 68er gezeugt haben soll, in ihr schon wieder das Verhängnis dieser Kinder, der heute also etwa Vierzigjährigen gelegt haben sollte? (Sie wären damit ganz bei Aly!?)

    Wollen Sie damit andeuten, dass die heute Vierzigjährigen, die in Wirtschaft, Publizistik und Politik heute das Ruder innehaben, mehrheitlich Globalisierung, Entsozialisierung, Boulevardisierung und Neoliberalismus verfolgen als Ergebnis einer Nichterzieheung oder was auch immer durch dier 68er?

    Bitte helfen Sie mir?

    +++

    Nachsatz:

    Es sei hier darauf hingewiesen, dass im Onlineteil der FR als „Bild zum Artikel“ nicht die von Walthor erwähnten Bilder zu sehen sind, sondern ein Bild des vor der Polizei fliehenden Daniel Cohn-Bendit mit der Bildunterschrift:

    „Demonstration anno 1968 gegen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Staatspräsidenen von Senegal, Senghor. Festgenommen wurde während der Feierstunde der Student Daniel Cohn-Bendit, der gemeinsam mit anderen Demonstranten das Gelände der Paulskirche zu stürmen versuchte.“

    s.:
    http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/zeitgeschichte/die_68er/1968_aktuelle_artikel/?sid=44f3a80273f364b0715fb01916f94b48&em_cnt=1285285&em_src=376397&em_ivw=1968_aktuell

  11. @8. Heinrich

    Du hast zwar, wenn ich Dich richtig verstanden habe, mir Küchenpsychologie vorgeworfen, als ich eine Erklärung des Alyschen Textes versuchte, als Rache am eigenen Scheiterns im Rahmen der 68er-Bewegung, die selbst wider ein Reflex, eine Folge auf die Unfähigkeit zu trauern der eigenen Väter gewesen war, doch jetzt schreibst Du, für mein Verständnis, ganz aus der nämlichen Wurzel:

    „Wir „68er“ sind aufgerufen, uns auch und gerade dadurch von der Vätergeneration zu unterscheiden, dass wir uns schmerzvoll auch unsere Fehler bewusst machen, uns gegenüber den Nachgeborenen dazu bekennen und sie freimütig mit ihnen zu besprechen, statt die großen Helden oder die schuldlosen Verdränger zu geben.“

    Diesem Satz kann ich zustimmen, allerdings vermisse ich, dann doch eine nähere Erklärung Deines Schlußsatzes

    „In diese Richtung wollte der 68er Götz Aly wohl gehen – und kam leider ein wenig weit vom Wege ab.“

    hinsichtlich der Gründe Alys, vom Wege abgekommen zu sein, wenn es denn nicht die von mir intendierten (sozial)psychologischen sein sollten, oder einen Angabe, welche (politischen/historischen/soziologischen?) Gründe es daneben noch geben könnte.

    P.S.: Danke für die Unterstützung der ZTurückweisung hinsichtlich des unsäglichen Scheuermann-Beitrags.

  12. Immer wieder ist die Rede von den Auswirkungen der 68er auf die nachfolgende Generation nicht selten verbunden mit dem Vorwurf, irreparable Schäden hinterlassen zu haben. Auch wenn ich nie in Kinderläden auf Tische kacken oder aus dem Wohnzimmermöbeln Objektkunst herstellen durfte, lege ich meine von 68ern vermurkste Psyche nun auf den Seziertisch. Als Beweis möchte ich die Bilderbücher anführen, mit denen ich als vierjährige infiltriert worden bin. Aber urteilt selbst:

    Bilderbuch Nr.1, sozusagen der Foucault für Vierjährige
    Die Hauptfigur, ein netter unschuldiger Junge, probiert in einem Kostümladen eine Sträflingsuniform an. Leider schlüpft er aus der Umkleidekabine durch die falsche Tür und findet sich in einer Gefängniszelle wider. Im Folgenden wird nun die Uniformierung und der trostlose Gefängnisalltag angeprangert, sodass die Häftlinge mittels Klopfzeichen eine Revolution anzetteln und sich schließlich farbige Kleider und individuell bemalten Zellen erkämpfen. Logisch, dass jemand, der dieses Bilderbuch angeschaut hat, niemals Roland Koch wählen wird.

    Bilderbuch Nr.2,
    Die Hauptfigur ist ein Herr Blau aus Blaubeuren. Er arbeitet in der Fabrik als Blaufärber. Sein Leben ist trist und öde, er nimmt auch nur blaue Lebensmittel zu sich, bis er eines Tages seinen Job hinschmeißt, ein freies Leben führt, Künstler wird, sich verliebt und so weiter. Nun, Rousseau und Marx lassen grüßen. Der Mensch ist von Natur aus gut, nur die Erwerbsarbeit macht ihn zu einem seelischen Frack. Wahrscheinlich will das so geängstigte Kind, am Ende noch Künstlerin werden.

    Bilderbuch Nr. 3
    Der Titel: „Wer Wasser klaut, fällt selbst hinein“ sagt schon alles. Eine raffgieriger König und sein verzogenes Töchterlein verprassen das Geld der Untertanen. Das Volk leidet Not. Als ihnen nun noch der Zugang zum dörflichen Brunnen verwehrt wird, zettelt das Volk eine Revolution an, sprengt den Brunnen, sodass die ganze Stadt geflutet wird. Das letzte Bild zeigt eindrucksvoll, wie König und Hofstaat, sich an Fischen festhaltend, davon treiben.
    In Anbetracht der rohen Gewalt fragte das arme Kind zart beseelt:„Mama, ertrinkt die Prinzessin jetzt am Ende?“ Moralisch bleiben doch da einige Fragen offen.

    Nun, ich könnte die Liste fortsetzen. Mein 68er Leid wurde aber hoffentlich exemplarisch dokumentiert. Ich kann nur sagen: Später wurde die Vereinnahmung noch schlimmer. Da schleppten mich meine 68er-Lehrer auf Friedensdemos mit und stifteten mich zu zivilem Ungehorsam an. Aber davon bei Gelegenheit mehr…

    Es wünscht euch eine gute Nacht

    susanne

  13. Das alles läuft auf das hinaus, was Herr Scheuermann nebenbei formulierte:

    Die jeweils folgende Generation reagiert auf die (medial fokussierten) Extreme der Vorgänger und sucht sie zu kontrastieren. Sie hält sich dabei jeweils für realistischer und wahrhaftiger und glaubt darüber hinaus, die Rechnung der vorausgegangenen Fehler bezahlen zu müssen.
    Übrig bleibt ein herabsetzendes Klischee, das von mittelmäßigen Kömödianten in Werbespots ausgeschlachtet wird.
    Für mich ist dies bloß ein Abwehrreflex der hilft, den wirklichen Fragen auszuweichen.

  14. @susanne

    Wirklich lächerlich bei den ganzen Diskussionen ist die in allen Ideologien wiederkehrende Idee, man könne einen „neuen Menschen“ erschaffen.

    Diejenigen, die dies behaupten schaffen es nicht mal, sich selbst zu ändern.

  15. @ 13. susanne

    Ich halte es nicht für ganz redlich, im Einleitungssatz Ihres Textes erst einen klischeehaften Popanz von Kita und Elternhaus aufzubauen, den Sie dann selbst als nicht existent zugeben. Was sollte das beweisen?

    Zudem: welchen überwältigenden Einfluss trauen Sie eigentlich Kindergärtnerinnen und Schullehreren zu, die Psyche eines Kindes zu „vermurcksen“, das schon eine erste, entscheidende Sozialisation durch das Elternhaus hinter sich hat. Im Regelfall kommt dagegen kein Lehrer mehr an. – Von Ihren Eltern erzählten Sie übrigens nichts.

    Zu Ihrer geschilderten Lesesozialisation möchte ich folgendes sagen:

    Kinderbuch 1) Sie nennen nicht den Titel und Verfasser des Buches, aber warum halten Sie es für ungeeignet. Wenn man danach mindestens nicht mehr auf die Idee kommt Leute wie Roland Koch zu wählen, dann kann es so schlecht nicht sein.

    Kinderbuch 2) Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass ein Buch, das offenbar den Charakter und die Wirkung entfremdeter Arbeit im Kapitalismus zum Thema hat, nicht von der Realität gedeckt wird. Sie selbst betonten hier im Blog immer wieder, wie wichtig Ihnen die Kunst oder mindestens das Feuilleton der FR sei. Um derartiges zu genießen braucht es nicht nur Kenntnisse, sondern auch Bildungsmöglichkeit und Zeit um dieses zu tun. Marx und Rousseau hier für ihr Bild des sowohl arbeitenden als auch allseits gebildeten und genießenden Menschen anzuklagen, könnte vermuten lassen, dass Sie dies allenfalls für das Privileg einer gebildeten Klasse o.ä. Eliten halten, das ihnen weggenommen werden könnte, wenn „die Masssen“ es auch für sich entdeckten und verwirklichten.

    Kinderbuch 3) Allzuviele Märchen scheinen Sie nicht gelesen zu haben in Ihrem Leben. Die Grausamkeit in den weniger bekannten Märchen auch und gerade der Gebr. Grimm u.a. im Sinne durchaus nicht modern zu nennender Erziehung oder als Ausdruck von – wie auch immer erworbenen – Ängsten, bzw. von Urängsten ist Ihnen wirklich nicht bekannt? Oder ist es nur die Botschaft der vielleicht möglichen, gar sozialistischen Revolution, die Sie ängstigt(e)? Wie war das, als Sie zum ersten Mal im Kindergottesdienst die Geschichte von der Sintflut, der alles bis auf den Gerechten Verschlingenden, vernahmen, haben Sie – wenn man fragen darf – darüber auch Ihren Glauben verloren?

    Ich erwarte mit Spannung Ihre Berichte aus der 68er-geprägten Schule, weise nur mal schon vorsorglich darauf hin, dass z.B. die Bürgerrechtsbewegung der USA wohl nie das erreicht hätte, was sie erreicht haben, wenn Sie keinenn zivilen Ungehorsam geübt hätte, der Marsch auf Washingteon nie stattgefunden hätte und die Schwarzen immer nur Onkel Toms`s Hütte zur Letüre gehabt hätten, wenn Sie überhaupt lesen lernen haben können, und dieses Buch dann noch allzu wörtlich genommen hätten.

  16. Ist nun schon alles gesagt? Mitnichten! (Sorry, dass es etwas länger wird.)

    Zwar widerstrebt mir zutiefst, mich in die Debatte einzumischen, handelt es sich hier doch um den Versuch eines gescheiterten und frustrierten Historikers, mit den üblichen medialen Tricks und einem unsäglichen reißerischen Buchtitel („Unser Kampf“) einen erneuten Historikerstreit vom Zaune zu brechen und so doch noch von der „herrschenden“ Geschichtswissenschaft anerkannt zu werden. Ich kann nur hoffen, dass ihm dies nicht gelingt und zumindest die Fachwissenschaft nicht auf seine dümmlichen und falschen Thesen einsteigt.

    Götz Aly schreibt: „Bei allen Ähnlichkeiten in den politischen Ausdrucksformen und zum Teil in den hochschulreformerischen Zielen liegt der wesentliche Unterschied zwischen den 33ern und den 68ern auf der Hand: Die Revolte der einen führte rasch zur Macht …, die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage.“

    Nicht einmal diese Kernthese stimmt, und zwar in zweifacher Hinsicht. 1.) Über die Nichtähnlichkeiten der politischen Ausdrucksformen ist schon genug geschrieben worden und ziemlich erschütternd ist, dass die drei „Gegenautoren“ den zentralen Unterschied, nämlich den solidarischen internationalen Kampf gegen staatliche Repression, Ausbeutung und Unrecht nur äußerst vage andeuten. 2.) Viel entscheidender ist aber das Götz Aly’s Aussage ergebnisbezogen, also nicht unter einem „machtpolitischen“ Gesichtspunkt einfach nur falsch ist:

    Ich möchte im Folgenden über die „Niederlage“ schreiben:

    Vor 1965 (eigentlich müsste man sowieso von 65ern statt 68ern sprechen) gab es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens inklusive Schule, Hochschule, Kultur, Familie, Medien (mit Ausnahme der von Adenauer so bezeichneten linken Kampfpresse Spiegel, Stern, konkret und Frankfurter Rundschau, hört hört!) eine entpolitisierte repressiv-autoritäre Grundstruktur, die man sich heute kaum vorstellen kann, wenn man sie nicht selbst miterlebt hat. Prügelstrafe für 10 bis 15jährige Schüler war in vielen Schulen systematisch an der Tagesordnung, Verstöße gegen die Kleiderordnung (JEANS!) wurden geahndet, eine Haarlänge jenseits der Hitler-Jugend-Länge war generell verpönt, wurde als obszön betrachtet und musste erst gegen erbitterten Widerstand und eine Reiher endloser absurder Sanktionen in Familie und Schule durchgesetzt werden, usw. Viel schlimmer: Die Augen vor internationalem Unrecht waren fest geschlossen (Beispiel: dass dem in Ungnade gefallenen persischen Justizminister die Augen ausgerissen wurden, bevor er vom Geheimdienst totgeschlagen wurde, war irgendwie „bedauerlich“, änderte aber nichts an der bedingungslosen Unterstützung des Schah-Regimes auch durch die Bundesrepublik). Wohlgemerkt, dies alles noch vor 1968 und vor „Vietnam“. Intellektuelle und Schriftsteller wurden vom amtierenden Bundeskanzler Erhard als „Pinscher“ verhöhnt und dass der spätere Kanzler Kiesinger die oppositionellen Studenten mit den übelsten Schimpfworten belegte und die von bakunix geschilderte Szene somit kein Einzelfall war, kann ich als Zeitzeuge bestätigen. Ich hab’s Kiesinger mit einem donnernden Sieg Heil aus fünf Metern Entfernung gedankt (als fünfzehnjähriger).

    Vergleicht man dies mit der Situation von heute, kann man über die „Niederlage“ nur schmunzeln. Nun bin ich weit davon entfernt, alle heutigen hart erkämpften Freiheiten der 68er-Bewegung zuzuordnen, aber die 68er waren entscheidender Katalysator für eine dynamische und erfolgreiche Umorientierung unserer Gesellschaft in den letzten 40 Jahren.

    Fasst man die „Neuen Linke“, die sich nicht erst 1968, sondern spätestens 1965 auch in Westeuropa etabliert hatte, in folgende Punkte zusammen:

    – Neuentwurf der Gesellschaftsordnung inklusive „Revolutionierung“ der sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen,
    – Neuinterpretation des Marxismus,
    – Individuum steht über dem Kollektiv,
    – Durchführung von Aktionen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln und zu provozieren,
    – Träger der „Revolution“: nicht länger das Proletariat, sondern Studenten, Intellektuelle, soziale Randgruppen,

    dann erinnert dies Aly vielleicht daran, warum er mal bei der Roten Hilfe und anderen linken Gruppen mitgearbeitet hat. Ich persönlich sehe keinen Grund, warum nicht auch heute an der WEITEREN Umsetzung dieser Ziele mitgewirkt werden sollte.

    Barbara Sichtermann fasst die Sprengwirkung der – nennen wir sie meinetwegen 68er – in einer Rezension zu Dutschkes Tagebuchnotizen (ein äußerst lesenswertes Buch!!!) in der taz wie folgt zusammen:

    „Man denkt nicht mehr daran, dass diese Wohnform (Wohngemeinschaft), ganz wie der Achtstundentag, erkämpft werden musste, so selbstverständlich erscheint sie einem heute. Auch dass ein unverheiratetes Paar problemlos in ein Hotel einchecken kann, dass Ehen ohne Trauschein akzeptiert werden, Kinder lediger Eltern keine Nachteile haben und schwule Paare den Bund fürs Leben schließen können – alle diese liberalen Freiheiten und Ausweise gewachsener Toleranz sind nicht vom Himmel gefallen, sondern die Resultate von heftigen sozialen Auseinandersetzungen, deren Ursprung durch eine Jahreszahl benannt werden kann: 1968“

    Über Aly’s sonderbare These der Nichtauseinandersetzung der 68er mit der NS-Vergangenheit ihrer Väter schreibe ich ein andermal (ich kenne eine endlose Zahl von Personen, die sich in intensivsten Zweier-Gesprächen mit der NS-Vergangenheit ihrer Väter (und Mütter !!) und auch ihrer Lehrer auseinandergesetzt haben).

    Conclusio: Ball flachhalten, liebe immer noch links engagierten Mitblogger! Nicht provozieren lassen und diesen Versuch eines medialen Coups im Sande verlaufen lassen.

    Und zum Schluss haben sich dann zwei blamiert: Der Autor Götz Aly auf der einen Seite – und auf der anderen Seite die sorglose-unkritische Zeitung, die ihn – ohne Hinweis auf „zur Diskussion gestellt“ oder ähnliche Bemerkungen – sehr blauäugig veröffentlich hat. Da hilft auch kein verstecktes Sorry hier im Blog („den Verantwortlichen tut dies sehr leid“), sondern das wäre schon einen Leitartikel wert, in dem die FR sich entschuldigt und eindeutig Position bezieht. Um so mehr, wo sich in der FR doch sonst wegen jedem „quergestellten Kommata“ ein überflüssiges (und letztlich nicht ernst gemeintes) SORRY findet …

  17. @Susanne

    Entschuldigen Sie Susanne, wenn ich Ihren Text allzusehr aufs Korn genommen habe, den Sie offenbar ironisch meinten. Ich gestehe, dass er mir nach der ersten Lektüre zu nah an der Realität der Scheuermänner erschien und eigentlich noch erscheint. So ganz will Ironie sich mir als Stilmittel in unserem, doch ernsten Zusammenhang nicht anbieten. Welchem Anhänger der ja wohl von uns beiden verabscheuten Denkrichtung sollte sich dadurch angesprochen fühlen, gar dazu, sein Denken aufzugeben? Mich hat er jedenfalls irritiert, spontan zum Gegenschreiben aufgerufen.

  18. Vielleicht ist es an der Zeit, realistisch zusammenzutragen, was die Aufbegehrenden tatsächlich erreicht haben?

    Freiheit ist mit blauen Flecken und blutenden Wunden, mit Haft und Berufsverboten erkämpft worden. Einige haben ihre persönliche Zukunft geopfert, um der Freiheit zu dienen, andere haben davon profitiert.

    Ganz persönlich: Wenn die mutigen Demonstranten 68 etc nicht gewesen wären, wäre mein Leben weniger frei gewesen.
    Aber: Wenn die RAF nicht gewesen wäre, hätte man mich nicht mit Naschinenpistolen bedroht, mich nicht unterdrückt.

    Was hat es nun gebracht? Mehr Freiheit, mehr Vernunft wenn auch mit vielen Umwegen, das ist mein persönliches Fazit.

    Trotz mancher Fehler: Ein Dank an die Protagonisten ist auch angebracht.

  19. Lieber Abraham,

    du fragst mich danach, wann und wie ich persönlich mit dem NS konfrontiert worden bin, und ich bekomme das Mosaik nur schwer zusammen. Fromm, dessen „die Kunst des Liebens“ ich nach neuerlicher Lektüre noch lesenswerter fand als seinerzeit, „Haben oder Sein“ sowieso, und Bettelheim, den ich nur biografisch kenne, haben nach meiner Kenntnis nichts über den Faschismus geschrieben. Ich besitze als früheste Werke zum Thema eine Ausgabe von Kogons „Der SS-Staat“ von 1947, ich weiß nicht mehr, wann antiquarisch erworben, und Walther Hofers 1957 herausgegebene umfangreiche Dokumentensammlung, es gab also Bücher zum NS, u.a. auch Hannah Arendts 1955 erschienenes „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, vielleicht ein Vorbild für Aly, aber sie waren mir unbekannt; nach speziellen Büchern für Kinder und Jugendliche hätte man wohl im Gegensatz zur Nach-68er Zeit vergeblich gesucht.

    In meiner Kindheit sprachen die Erwachsenen von Krieg und Entbehrungen, aber nicht von Nazis und Nazi-Herrschaft. Die etwas älteren Lehrer, z.T. brutale und gewaltsame Typen, erzählten Heldengeschichten von der Front, nicht über ihre Aktivitäten in der „Bewegung“.

    Die Miene meines Vaters verfinsterte sich, wenn die Sprache auf die Nazis kam. Ich glaube, ich war schon in der Pubertät, als ich mitbekam, dass er zeitweilig in einem Straflager der Nazis in „Schutzhaft“ gewesen war.

    Etwa zu dieser Zeit bekam ich von meiner älteren Schwester das „Tagebuch der Anne Frank“ in die Hände, mit 16 bekam ich in einem katholischen Filmclub völlig ohne Vorbereitung und Nachbereitung den Film „Nacht und Nebel“ zu sehen, dessen Hauptinhalt: Resistance und Verschleppung französischer Widerstandskämpfer, ich nicht verstand. Als umso eindrücklicher und schrecklicher blieben mir die erstmals gesehenen Sequenzen von den Leichenbergen in Auschwitz im Gedächtnis und verfolgten mich. Ich muss wohl in der Zwischenzeit auch über Lektüre und Vorträge Einiges über den NS erfahren haben, erinnere mich jedoch nicht an konkrete Einzelheiten.

    Ich hatte in drei Schulformen Geschichtsunterricht, der zweimal bei Karl dem Großen begann und einmal bei den Leuten aus dem uns benachbarten Neandertal und jedesmal beim 1. Weltkrieg endete.
    Auf der geografischen Wandkarte im Klassenraum war nicht der nackte Hintern der 68er mit der Parole „Deutschland zweigeteilt, Niemals!“ zu sehen, sondern ein dreigeteiltes Deutschland, dessen mittlerer Teil „Sowjetisch besetzte Zone“ hieß und auf dessen östlichen Teilen „Zur Zeit unter polnischer Verwaltung“ bzw. „Zur Zeit unter sowjetischer Verwaltung“ stand.

    Ich habe just im SS 1968 angefangen zu studieren, habe mehr aus Büchern gelernt als in Proseminaren, zu deren Besuch ich wegen der vielen Demos, Vollversammlungen und Sit-Ins usw. auch wenig Zeit hatte. Bezeichnenderweise war neben den Frühschriften von Marx und Marcuse, Horkheimer und Wilhelm Reich etc. der Renner seinerzeit nicht ein Buch über den Nationalsozialismus, sondern über die Gründe, wieso er von unserer Elterngeneration so verdrängt worden ist: „Die Unfähigkeit zu trauern“ von den Mitscherlichs.

    1971 bin ich von der Kölner Uni, wo unter den Talaren der Muff von tausend Jahren, na ja, von nahezu 600 Jahren, noch allgegenwärtig war und die Studenten einander noch siezten, zum Politikstudium nach Marburg gewechselt und kam dort unmittelbar mit Reinhardt Kühnl und seinem gerade erschienenen Buch „Formen bürgerlicher Herrschaft – Liberalismus, Faschismus“ in Kontakt und erst in der Folge zu einer näheren Beschäftigung mit dem Thema „Nationalsozialismus“ bzw. „Faschismus.“

    Soweit mein persönliches Erleben und Erinnern, das sicher nicht in jeder Hinsicht repräsentativ ist.

    Grüße
    Heinrich

  20. Danke, Heinrich, für Deine persönlichen, sehr interessanten Erinnerungen.

    Inzwischen habe ich auch in unserem Bücherschrank nachgeschaut, wann welche Werke erschienen sind. „Die Unfähigkeit zu trauern“ von Mitscherlichs ist von 1967, aber Robert Neumann hat schon in den 50er Jahren einiges über die NS-Zeit publiziert. Kogon hast Du erwähnt, wann Bettlheims Studie über seine KZ-Erfahrungen (geschrieben unmittelbar nach seiner Emigration in die USA) in Deutsch erschienen ist, weiß ich allerdings nicht (sicher erst viel später).

    Es gab also vor 68 einiges an Literatur, doch für den „durchschnittlichen“ Schüler und Studenten wohl kaum erreichbar.

    Wie schätzt Du das Wissen der jetzigen Schüler und Studenten über die NS-Zeit ein?

  21. Ein entscheidender Unterschied zu Alys Parallelsetzungen der Nazis mit den Achtundsechzigern liegt nicht nur in der Weltanschauung, sie liegt auch in der Art der Ideologie begründet. Während die Nazis ein geschlossenes Weltbild formten, gab es bei den Protestierenden zunächst einmal ein Dagegen. Das waren die kulturellen Lebenseinstellungen, die, wie von Fiasco beschrieben, die Entwicklung der Persönlichkeit einschränkten, und die politischen Entwicklungen, die sich im Nachkriegsdeutschland zementiert hatten, die autoritäre Strukturen hervorbrachten, die die Zeit des Faschismus zu ignorieren schienen. Wenn im Parlament in einem Dreiparteiensystem die zwei größten zu einem Block sich zusammengeschlossen hatten und hinter den Türen mauschelten, dann waren einfach Wut und Aggression vorhanden, die im Konkreten, beispielsweise anhand der Bedingungen von Forschung und Lehre an den Universitäten, ihre oppositionellen Handlungen fanden. Da auf internationaler Ebene die US-Administratoren Südamerika und asiatische Staaten zu ihrem Hinterhof degradieren wollten und die BRD als deren Steigbügelhalter fungierte, gab es kein Halten mehr.

    In der Folge nach 68 entwickelte sich eine nahezu unübersichtliche Zahl von politischen Gruppierungen, die unterschiedliche theoretische Hintergründe hatten: Von Marx, Engels, Lenin oder Trotzky über die sozialdemokratischen Varianten wie Bernstein und Kautsky bis hin zu den psychologisch orientierten Ansätzen, wie etwa Freud, Reich, Adler oder Jung, ohne die Gewährsphilosophen der Frankfurter Schule oder etwa Bloch außen vor zu lassen. Dazu kamen hedonistische und bewusstseinserweiternde Ansätze, die mit Drogenkonsum einhergingen. Es war eine längere Phase des Probierens und Suchens in unterschiedliche Richtungen. Eins schien sie von außen betrachtet zu einigen: So wie unsere Eltern, wie unsere Lehrer oder wie unsere Professoren wollen wir nicht sein!

    Wenn man sich heute im Internet umschaut und feststellen muss, welche radikalen Wendungen manche oder die meisten (?) von der 68-Zeit Infizierten vollzogen haben, erschreckt man. Der 1973 in Bremen gegründete Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW), eine kaderartig aufgebaute Organisation mit Sympathien für Mao, deren Mitglieder sich gerne in der Bundeswehr ausbilden ließen, um für den bewaffneten Kampf gegen das Kapital gerüstet zu sein, hatte folgende Mitglieder: Ulla Schmidt (Bundesministerin, SPD), Reinhard Bütikofer (Bundesvorsitzender der Grünen), Winfried Kretschmann (Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von BaWü), Winfried Nachtwei (MdB, Grüne), Ralf Fücks (Vorstand der H.-Böll-Stiftung), Eberhard Kempf (Strafverteidiger u.a. von Dt.-Bank-Chef Josef Ackermann, Aufsichtsrat von SAP), Christa Sager (MdB, Grüne) etc.

    Üblicherweise entwickelt man sich in seinem Denken weiter und gelangt zu differenzierteren Überlegungen. Dass aber die oben genannten Politiker/innen Hartz IV, die Riester-Rente oder etwa die Zulassung der Hedgefonds in Dt. mit auf den Weg gebracht haben, die die materiellen Umverteilungsvoraussetzungen von unten nach oben beschleunigten, verzeihe ich nicht!!! Das hat mit Weiterentwicklung des Denkens nichts zu tun, das ist einfach der Zynismus der an die Macht Gekommenen.

  22. @ Abraham

    „Es gab also vor 68 einiges an Literatur, doch für den „durchschnittlichen“ Schüler und Studenten wohl kaum erreichbar.“

    Ja, so kann man das wohl zusammenfassen.

    Robert Neumann kannte ich seit meiner Kollegzeit nur als Autor köstlicher Parodien („Mit fremden Federn“), die Situation im KZ Buchenwald beschreiben samt Untergrundkampf gegen die SS und Lagerbefreiung auch Kogon und Emil Carlebach.

    „Wie schätzt Du das Wissen der jetzigen Schüler und Studenten über die NS-Zeit ein?“

    Darüber können die hier schreibenden Lehrer wahrscheinlich berufener Auskunft geben. Das Thema ist wohl seit den 68ern und durch sie im Gegensatz zu meiner Zeit in den Lehrplänen verankert, Nach Studien, die von Zeit zu Zeit in Medien referiert werden, deren Aussagekraft ich aber nicht beurteilen kann, scheint das nur einen sehr begrenzten Effekt zu haben.

  23. @ 11. Kommentar von: 68er

    Ich mach hier doch keine Interpretationsstunde. Einfach die Fotos ansehen und nachdenken. Dann kommt man ganz schnell darauf, dass Aly mit seiner Argumentation so was von daneben liegt. Zwischen “Hände an die Hosennaht“ und “ Macht jetzt mal was ihr wollt“ ist so ein Riesenunterschied, dass man sich fragen muss, was den Autor überhaupt bewegt haben mag, diese Bewegungen gleich zu setzen. Geld aus dem Buchverkauf, sowie die zu erwartende Empörung allenthalben und die daraus erfolgende Bekanntheit und Einladungen zu Kerner und “Genossen“ ? Na ja, jeder wie er s braucht, als Wissenschaftler ist er aber unten durch…….

  24. @68er

    Nicht ohne Vergnügen habe ich ihre Reaktion auf meinen Text bemerkt.
    Warum die Ironie? Ich werde das Gefühl nicht los, dass 68 von Teilen der Konservativen dämonisiert und von Teilen der Linken überhöht wird.
    Ich selbst bin erst Mitte der Siebziger geboren. Dennoch waren die Ideen, Themen der 68er gegenwärtig, nicht nur in Form dieser Bilderbücher. 68 hat wie ich finde, mein Leben beeinflusst und ich verbinde damit-das möchte ich ausdrücklich sagen- in erster Linie positive Aspekte. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass ich weitesgehend mit Menschen aus der Generation in Kontakt kam, die keine Dogmatiker waren. Mit meinem Bilderbuchbeispiel wollte ich zwei Dinge zeigen. Erstens habe ich mich lustig darüber gemacht, dass den 68er plötzlich die Schuld an allen möglichen Problemen sein sollen. Gleichzeitig zeigt es aber auch den Idealismus, mit dem die nachfolgenden Kinder zum moralischen Handeln erzogen werden sollten. Die Bilderbücher habe ich vor allem von meinem Onkel bekommen, der als einziger aus der Familie studiert hatte. Er lebte in einem Haus, das vollgestopft mit Büchern war und in jedem Zimmer bargen Geheimfächer Schokolade. In meiner Phantasie steigerte sich dieses Haus zu einem Sehnsuchtsort und mein Onkel wurde mir zu einem starken Vorbild.

    Meine Eltern konnten aus finanziellen Gründen keine höhere Schule besuchen, sodass sie nicht zu den Studentenkreisen gehörten. Anfang der Siebziger wandten sie dennoch ihren engen, süddeutschen Kleinstädten den Rücken und gingen nach Westberlin. Meine Mutter lebte dort in einem Arbeitnehmerwohnheim, dass von einem Stacheldraht umzäunt war, um nächtlichen Männerbesuch zu verhindern. “Du kannst dir nicht vorstellen, was das für eine oberspießige Zeit damals war“, sagt meine Mutter immer, wenn ich mit ihr darüber rede. Meine Eltern hatten keine Ahnung von Marx und Hegel. Mein Vater spielte zwar in einer Band Rockmusik, im Großen und Ganzen führten sie jedoch ein braves Leben. Meine Mutter, die in einem großen Berliner Kaufhaus bei Herrenartikel beschäftigt war, konnte sich mit dem verlotterten Kleidungsstiel der 68er Männer nie wirklich anfreunden –(mein Vater zu ihrem Kummer schon.).
    Lustigerweise hatte meine Mutter in dem Kaufhaus- unabsichtlich- unter den Verkäuferinnen das Tragen von Hosen eingeführt. Die Kleidervorschrift- von der meine Mutter nichts gewusst hatte- sah Röcke vor. (In dem Fall war die schwäbische Provinz schon weiter.) Da meine Mutter beherzt in Hosen zur Arbeit kam und darin auch noch ziemlich gut aussah, wagte niemand sie davon abzuhalten. Schließlich forderten die Mitarbeiterinnen das gleiche Recht für sich ein. Und so wurde das Hosenverbot in der Filiale ad acta gelegt.
    Meine Mutter erzählte mir auch von den Studentenprotesten, die am Kaufhaus vorbeizogen und dass diese von den Kolleginnen überhaupt nicht positiv aufgenommen wurden. Anstelle von Solidaritätsbekundungen hagelte es Beschimpfungen. Meine Mutter jedoch fand den Protest gerechtfertigt. Eines Tages stießen meine Eltern zufällig auf einen Demonstrationszug gegen Springer. Da sie die Hetzkampagnen der Bildzeitung auch ablehnten beteiligten sie sich daran.
    Sicher waren meine Eltern keine 68er. Dennoch ist in dem Berliner Umfeld etwas von dieser Geisteshaltung in ihr Leben geschwappt.

  25. Zwei Fragen stehen da:

    1) Welche Quellen (Bücher) erföffneten dem (damals ca 18-Jährigen) „68er“ den Zugang zum Nationasozialismus??

    „)Was „wissen“ die heute 18 Jährigen im Vergleich zu ihren Vorgängengern, was ist anders?

    ad 1) Es waren nicht nur die genannten Bücher, Autoren, die die einen selbst entdeckten, den anderen vorgelegt wurden. Die waren/sind wahr und gut. Mindestens so wichtig waren die Menschen: Die „schweigenden“ , nicht trauern könnenden Väter, die ängstlichen aber mütterlichen und auch wieder starken Mütter und genauso, die aus der Verbannung wieder erschienen Lehrer, die aufklärten. Der Direktor meines Gymnasiums im Darmstadt der 60iger Jahre war DFU-Mann, für ihn gab es Mordrohungen an der der Schule gegenüberliegenden Friedhofsmauer, aber wir hatten Teach-ins. Mein Sozialkundelehrer diktierte uns im Zeitalter vor dem Kopierer Marx in die Kladde und diskutierte ihn mit uns. Später konnte ich bei ihm in Frankfurt mein zweites Staatsexamen in Politk ablegen. Es gab einen protestantischen Pfarrer, der seinem Stand Ehre machte, sein Name war über das Wort zum Sonntag bundesbekannt. Als Kind hatte ich noch die Trümmerhaüser, die Bombenkrater gesehen in ihnen gespielt, am 17. Juni 1953 stand in Zehlendorf bei uns ein US-Panzer vor dem Haus, ich war drei Jahre alt und er bedrohte meine Kreidezeichnungen auf dem Asphalt. Ich erinnere mich auch noch, dass Stacheldraht die alte Brücke über den Teltowkanal – für mich schon immer – unüberschreitbar machte, und mein kommunistischer Patenonkel aus Ostberlin seit dem Mauerbau mich nicht mehr besuchen konnte. Da tauchen früh Fragen auf, die beantwortet werden wollen. Die Zeit des Faschismus war, ob von links oder von bürgerlicher Seite damals in jedem Fall erst einmal ein gewaltiges Unglück und man war sich sogar einig, das es einmalig in der Geschichte gewesen sei. Das, in der Tat wurde von den einen ab er so von den anderen so begriffen. Für den fragenden Schüler und später Studenten ein zu untersuchender Widerspruch. Heydorn half dann Lehrer zu werden, nachdem die Eltern meinten den Schauspielberuf könne ich doch danach noch ergreifen. Manchmal hörte man trotzdem auf seine Eltern, alles wusste man noch nie.

    2) Schüler heute haben (in Hessen) den Nationalsozialismus einmal in der 10. Klasse auf dem Lehrplan, weiterführende Schulen wiederholen das noch einmal in der Oberstufe. Faschismus ist dabei – aus vielen, nicht nur genuin ideologischen Gründen – ein Thema unter vielen, halbwegs Aufmerksamkeit erlangend nur, soweit es „prüfungsrelevant“ ist. Schule ist heute Wissens- nicht mehr Bildungsanstalt. Die Fragen, die so gestellt und beantwortet werden sind funktional begründet, aber nicht mehr sinnstiftend.

    Sinn hat zu haben, was „hinten“ rauskommt, nicht was vorne begründend zu tun sei.

    Meine heute 18-Jährige Tochter ist (bis jetzt) weder rechts noch links. Sie ist sensibel, phantasievoll, intelligent und fragt sich was sie studieren soll. Ihre Antwort steht aus. Sie ist überzeugt, dass Sie es rundum schwerer hat, als ihr Vater oder ihre Mutter. Manchmal glaube ich es und manchmal nicht.

    Ein 68er

  26. # 27

    Susanne schreibt: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass 68 von Teilen der Konservativen dämonisiert und von Teilen der Linken überhöht wird.“

    Das denke ich auch. Nur: Die Konservativen, die wahren 68er wie Eberhard Diepgen und Klaus-Rüdiger Landowsky, die sich schon in frühen Berliner Studientagen verbündeten, um via CDU die Macht zu erlangen, haben ihr Denken nicht geändert. Die anderen, die demonstrierenden 68er, die den Gang durch die Institutionen antreten wollten, um den Staat zu verändern, haben sich selbst gewendet und sind die besseren Schützer von Behörden und Anstalten geworden.

    Historisch hat sich immer wieder gezeigt, dass die angebliche Linke im entscheidenden Moment das durchsetzte, was die Konservativen wollten. Der erste sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske ließ 1919 den Spartakusaufstand blutig niederschlagen, in dessen Folge auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gewaltsam zu Tode kamen. Die Große Koalition (SPD + CDU) setzte mit ihrer Zweidrittelmehrheit 1968 die Notstandsgesetze um. Die Brandt-SPD führte 1972 den Radikalenerlass ein, und eine Regierung aus Grünen und Sozialdemokraten demontierte in nie da gewesener Weise den Sozialstaat der Bundesrepublik. Deshalb brauchen sich die demonstrierenden 68er nicht auf die Schulter klopfen.

  27. Lieber bakunix, ich habe bisher nie Grund gefunden, ihren Beiträgen wesentlich zu widersprechen, aber Ihr beitrag #30 ist mindestens verwirrend widersprüchlich:

    Sie stellen unechte Sozialdemokarten, wie Noske (Tucholsky charakterisierte den Typ als „außen rot und innen weiß“) auf eine Stufe mit echten Reaktionären wie Diepken und Landowsky, die Sie – oder ist das jetzt auch ironisch gemeint? – als „wahre Linke“ bezeichnen?

    Es gab/gibt genuine 68er. Bevor sie unechte Sozialisten mit echten Reaktionären auf eine Stufe stellen, Willi Brandt allzu einfach abfertigen, würde ich von Ihnen gerne einmal hören, ob Sie überhaupt einen positiv besetzten 68er-Begriff haben und wie der aussähe? Was ist Ihrer Meinung nach realiter links (gewesen) oder die Alternative zum Seienden?

  28. Der Titel für diesen Thread schlägt ja schon wieder dem Faß die Krone in’s Gesicht.
    Wenn überhaupt irgendwas aus der Zeit zwischen dem (modisch schon fortgeschrittenen) Jesus und den 2008er Scheinrealisten übrig geblieben sein sollte, dann doch wohl die Überzeugung, daß man Denkmuster möglichst vermeiden sollte.
    Aber ich sag’s ja:
    „Die Realisten von heute sind die Gestrigen von morgen“.

  29. @ 32. Kommentar von: BvG

    Abgesehendavon, dass man vielleicht annehmen könnte, dass Jesus durchaus in bestimmten Mustern dachte und predigte – und was war überhaupt vor ihm? -, kannn ich mir bei Ihnen langsam erklären, warum ich Sie oft nicht verstehe. Ohne Linie und Muster im Gedanken wird das schwer, oder gilt Ihr eigener Vorsatz nicht für Sie selbst.

    Aber wie auch immer, Ihrem seltsamen Diktum „Die Realisten von heute sind die Gestrigen von Morgen“ (Gilt Jesu Wort nicht mehr, oder was heißt es, dass es, ihrem Diktum zufolge, heute gestrig sei?) setze ich ein

    „Die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen
    Und aus Niemals wird: heute noch!“

    aus:

    „Bertolt Brecht: „Lob der Dialektik“

    Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
    Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
    Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.
    Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden
    Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut:
    Jetzt beginne ich erst.
    Aber von den Unterdrückern sagen viele jetzt:
    Was wir wollen, geht niemals.
    Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
    Das Sichere ist nicht sicher.
    So, wie es ist, bleibt es nicht.
    Wenn die Herrschenden gesprochen haben
    Werden die Beherrschten sprechen.
    Wer wagt zu sagen: niemals?
    An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
    An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfalls an uns.
    Wer niedergeschlagen wird, der erhebe sich!
    Wer verloren ist, kämpfe!
    Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
    Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen
    Und aus Niemals wird: heute noch!“

    entgegen. – Bißchen viel „Muster“ für Sie?

  30. @68er
    Eigentlich sehe ich Ihrer Entgegnung eine Bestätigung.

    Zunächst gilt es doch anzuerkennen, daß es in der Politik keine „ewigen Wahrheiten“ gibt. Es sind widerstreitende Interessen in veränderlichen Gegebenheiten die jeweils neue Antworten erfordern. Möglicherweise bleiben ethische, religiöse oder Menschenrechte zeitlos(siehe Thread „Online-Voting) obwohl auch diese dauerhafte Gültigkeit diskutiert wird. (Inga, Abraham, Heinrich, Sie und ich. Siehe dort).

    Gerade die Relativierung der politischen Axiome war doch ein Erfolg der sogenannten 68er. Die ständige Infragestellung und die ständige Suche nach neuen und kompromißfähigen Lösungen sind für mich das herausragende Merkmal der 68er. (Toleranz ist das Stichwort, nicht resignative Beliebigkeit.) Auch das konsequente Hinterfragen der Bedingungen, welches als „Herumdiskutieren“ diffamiert wird, ist Ausdruck der Bereitschaft, jede Situation immer wieder neu zu betrachten. Nicht zuletzt ist dies in der Diskussion um „Kuschelpädagogik“ deutlich geworden.

    Mein Spruch bezieht sich auf die Arroganz der sogenannten Realisten, weil sie glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben. In der jetzigen ökologischen Debatte glaube ich zum Beispiel, daß es Zeit ist, daß die „Realisten“ sich bei den „Spinnern“ entschuldigen sollten.
    Er bezieht sich auch darauf, daß die sogenannten „kühlen Rechner“ an der Börse und in der Wirtschaft nachgewiesenermaßen nicht auf Fakten, sondern auf Stimmungen und persönliche Befindlichkeiten reagieren.

    Ich wehre mich aber auch gegen die Untertsellung, daß die „altgewordene 68er“ quasi senil ihre althergebrachten Interpretationsmuster verfolgen. Manch jüngerer Mensch ist da viel weniger flexibel.

    Man will nicht einfach zum alten Eisen geworfen werden, wenn man aus Bronze besteht.

  31. @ Walthor @ Susanne und alle.

    Wir haben für unsere Kinder im Kinderladen ein wunderschönes Klettergerüst gebaut, mit Höhlen, Rutschen, Spielflächen und fröhlichen Farben. Natürlich durften sie auch mit Alltagsgegenständen spielen. “Allein gelassen” wurden sie nie. Sie wurden nur nicht dressiert und drangsaliert, mussten nicht zu einer bestimmten Uhrzeit aufs Töpfchen, um dort so lange zu sitzen, bis “was drin” war. Auch den Mittagsschlaf bestimmten die Kinder selber. Die Eltern waren nicht nur Studierende , sondern ein buntes Gemisch. Krankenschwestern waren z.B. dabei, die mit ihrem Schichtdienst einen herkömmlichen Kindergarten nicht gebrauchen konnten. So schliefen bei mir oft Kinder, deren Mütter Spät- oder Nachtdienst hatten. Hier haben sich unter den Kindern Freundschaften entwickelt, die zum Teil bis heute anhalten.
    Die normalen Kindergärten waren damals dagegen in der Tat lieblos. Ich hab als Schülerin in den Ferien in einem Kleinkinderheim gearbeitet. Überwiegend habe ich Töpfe geschrubbt, Geschirr abgewaschen, das gar nicht gebraucht wurde, die Kinder im Akkord abgefüttert. Und nur, wenn sich überhaupt keine Arbeit für mich fand, durfte ich mit den Kindern spielen, was sonst niemand tat. Einmal (!) durfte ich mit vier Kindern in den Park. Ansonsten wurden sie vor die Höhensonne gesetzt, (zehn Minuten von vorn, zehn Minuten von hinten) . Grauenvoll!!

    Die “68er” waren keine einheitliche “Bewegung” . Viel eher war es der Aufbruch einer Generation , die in vielen Ländern ganz unterschiedlich stattfand. Dass es in Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, ist nicht nur mit einem Generationenkonflikt zu erklären. Die Nachkriegskinder bekamen keine Antworten auf ihre Fragen. Die Lehrer schwiegen, die Eltern auch. “Die Väter der 68er“, wie die FR titelt. ! “VÄTER”! Viele dieser Generation hatten gar keine Väter, gegen die sie sich abgrenzen und beweisen mussten. Sie hatten Mütter, von denen viele Mitglied in der NSDAP waren (meine auch). Überwiegend Witwen und Flüchtlingsfrauen haben diese Nachkriegskinder großgezogen. Diese Mütter hatten begriffen, dass sie einem falschen Idol nachgelaufen sind, sie haben nach und nach gefühlt und verstanden, was dieses “Dritte Reich” angerichtet hat. Nur, – gesprochen haben sie darüber nicht. Getrauert haben sie schon. Über ihr verlorenes Leben, ihre verlorene Jugend, in der sie ihr soziales Engagement mit Leidenschaft dem Falschen gewidmet hatten, über den Verlust geliebter Menschen, die im Krieg zerfetzt wurden. (Und geschämt haben sie sich auch, das ist mein subjektiver Eindruck). Diesen Müttern war klar, dass man auch den Töchtern eine gute Ausbildung zukommen lassen musste, damit sie ein eigenständiges Leben ohne Ehemann bewältigen konnten. .

    Und tatsächlich habe ich lange geglaubt, dass wir uns auf dem Weg zu einer freieren, toleranten und weltoffenen und demokratischeren Gesellschaft befanden. Heute habe ich da ernsthafte Zweifel. Möge ich irren!°

  32. Bakunix vermerkt ja über die Replik von Narr u.a., sie gehe inhaltlich nicht wesentlich über die hier im Blog entwickelte Kritik hinaus. Das spricht weniger gegen Narr als vielmehr für die Qualität der Diskussion hier, die durch solche Konkretionen, wie die von I. Werner, umgekehrt über den sehr thesenhaft kontradiktorisch gehaltenen Narr-Artikel hinausgeht.

    Ergänzend hierzu: „(…)Mütter, von denen viele Mitglied in der NSDAP waren (…)“ ist ja eine relative Aussage. Tatsächlich war die „Nationale Revolution“ ein reiner Männerbund, Frauen, wie bei den Burschenschaften auch, als Staffage natürlich willkommen. Wiewohl viele Frauen Hitler wählten, betrug der Anteil der Frauen an der NS-Mitgliederschaft 1935 ca. 5-7%, in der Hochphase hatte die NS-Frauenschaft 1,7 Mio Ohneglieder. Ihr Einfluss auf die Politik war marginal. Das wird vielfach mit dem NS-Frauenbild erklärt, aber m.E. wird umgekehrt viel eher ein Schuh daraus. Ich habe an anderer Stelle (Eva Hermann-Diskussion) dargelegt, wie diametral der tatsächliche Einsatz der Frauen in der NS-Gesellschaft und -Wirtschaft dem propagierten ideologischen Muster widersprach. wie wäre es also mit der Erklärung, dass das Heimchen-Muster propagiert wurde, um Mitbestimmungs-Ansprüche der Frauen zurückzudrängen?

    Ganz anders bei den 68ern. Wieso nicht zwei Bilder nebeneinander: Massenaufmärsche von uniformierten Männer-Kolonnen auf der einen Seite, zivile (na ja, pikanterweise von abgetragenen US-Army-Kampfjacken abgesehen) Frauen und Männer Arm in Arm auf ihren Demonstrationsmärschen auf der anderen?

    Auch das Aufbegehren von Frauen gegen ihre „Ausbeutung“ und gegen die Dominanz der Männer fand eben innerhalb der 68er-Bewegung statt, und die Frauen-Emanzipationsbewegung darf man als eine ihrer vielfältigen Folgen ansehen.

    Man stelle sich das Szenario auf einer SA-Versammlung vor, auf der Hitler, Heß oder Goebbels von einer Frau mit Tomaten beworfen würden, undenkbar!

    http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=26438&key=standard_document_32281680

    Umgang mit Kindern: Wir wurden zuhause verprügelt, im Kindergarten (!) verprügelt, in der Schule verprügelt, in den Internaten verprügelt, in der Fabrik-Lehre verprügelt.

    Und wenn es nur den einen Effekt hätte, dass unsere Kinder ihre Kinder nicht schlagen: es hätte sich allein deswegen gelohnt.

  33. Was mir gerade auffällt: Heinrich hatte in seinem gelungenen Beitrag Nr.8, im Zusammenhang mit der Aufarbeitung von 68 den Aspekt „Affinität gegenüber totalitären Konzepten“ angesprochen. Leider wurde dieser Faden in der Diskussion nicht weiter aufgenommen. Diesbezüglich würde mich zum Beispiel, die Meinung von Herrn „68er“ interessieren. (Das war jetzt nicht ironisch, sondern ganz ehrlich gemeint).

    Ich interessiere mich sehr für die philosophischen Denkrichtungen, die unmittelbar nach 1945 bis heute entstanden sind. Einige Denker haben –so liest man es zumindest- die Studentenbewegung in der Theorie stak beeinflusst. Leider habe ich lediglich eine vage Vorstellung davon, wie und worüber unter den Studenten diskutiert wurde. Mich würde daher sehr interessieren, inwiefern diese theoretischen Debatten tatsächlich ihren Niederschlag in den Diskussionen „am Küchentisch“ oder in der Kneipe fanden, also welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit der Theorie überhaupt hatte. Vielleicht kann mir jemand darauf eine Antwort geben?

    Susanne

  34. @ 34. Kommentar von: BvG

    Lieber BvV

    zu Ihrer – wie es mir erscheint – Sicht der Nichterkennbarkeit der Dinge, trotz Kategorischem Imperativ habe ich hier noch eine kleine Geschichte für Sie:

    „Kleine Zweifel“

    In der Mitte des Jahrhunderts kam im
    Westen eine Theaterrichtung auf, deren
    Autoren das menschliche Tun als absurd
    darstellten. Einer ihrer führenden Vertreter
    war der gebürtige Rumäne Eugene I.
    Herr B. lernte ihn eines Tages kennen.
    „Die Welt ist nicht erkennbar“, sagte Eugene
    I. „Woher wissen Sie das?“ fragte
    Herr B.

    aus: „Geschichten vom Herrn B.“ von
    André Müller und Gerd Semmer.

  35. Liebe Susanne,

    die Antwort auf Ihre Frage ist wahrlich nicht leicht.

    Das erste, das mir zum Wort – noch nicht einmal „Begriff“ – der Gewalt einfällt, ist – Heinrich hat es schon eingeführt – die Strafe des Geschlagenwerdens durch die Eltern, die es nicht besser hinbekamen. Ich würde nicht sagen können, ich sei mit Prügeln erzogen worden, aber es gab sie und es gab meine Furcht davor. Überwunden hatte ich sie und die Unterwerfung darunter erst mit 16/17. Ich mußte auch nicht zurückschlagen um meine Eltern davon zu überzeugen.

    Das wäre die individuelle Seite. Auch das kann man politisch betrachten, bildet aber mehr einen – wenn auch nicht ganz unbedeutenden – Hintergrund für die Ausbildung dessen, was ich bei mir, für mich den 68er-Typus nennen könnte. Hier war in diesem Zusammenhang intialisierend das, was man dann „strukturelle Gewalt“ nannte: Unfreiheit in Schule, in institutionalisierter Erziehung, Unterdrückung der kolonisierten Welt, Krieg weiter als Mittel der Durchsetzung von imperialistischer Poltik (der kapitalistischen Ausbeutung).

    Wir wissen heute, dass in Deutschland nur wenige aus diesem Hintergrund als (RAF)-Terroristen hervortraten und schuldig wurden. Ungleich mehr standen denen auf Seiten der durch Einsatz (fast) jeder Gewalt Herrschenden gegenüber.

    Wenn „Affinität zur Gewalt“ heißen soll „Begeisterung für Gewalt“ so hat es das natürlich gegeben, aber es stand eben mindestens der „Befreiungskampf der Dritten Welt“ in der Welt und es gab die andere, „ungerechte“ Seite – die gibt es übrigens immer noch.

    Ich selber „diente“ sogar zwei Jahre in der damaligen Bundeswehr, glaubte irgendwie dem General Baudissin glauben zu können zu müssen. Dann habe ich verweigert und bin als Gefreiter entlassen worden. – Würde ich heute in Berlin-Bonn oder in Afganisthan den „Wieder“aufbau einer Nation militärisch betreiben, wenn es anders gekommen wäre?

    Schon als Jugendlicher, der ich lieber Cooper als May las, fragte ich mich, als ich in einem Brockhaus von 1938 die Parteirangabzeichen, die SS-Dienstgrade studierte, ob ich nicht doch auch ein begeisterter Hitlerjunge, oder wütender Werwolf – das war damals nicht Hollywood – hätte sein können, wenn …

    Kurzes Fazit: Für mich als 68er war/ist Gewalt immer einen Frage, ein Problem, persönlich und politisch. Sie war und ist mir nahe, aber ich habe keine Affinität zu ihr. – Glück gehabt?

  36. @ 68er, 31

    Du schreibst, mein Beitrag sei widersprüchlich. Ich will nicht in Abrede stellen, dass dieser Eindruck entstehen kann. Weiter merkst Du an, ich würde „unechte Sozialdemokraten“ mit „echten Reaktionären“ auf eine Stufe stellen und hätte die letzteren als die „wahre Linke“ bezeichnet. Das ist allerdings nicht der Fall.

    Ich habe die beiden Berliner CDU-Politiker als die „wahren 68er“ stigmatisiert, das hat mit der „wahren Linken“, die ich nicht kenne, nichts zu tun, weil die beiden schon zu Studentenzeiten den Marsch durch die Institutionen verabredet haben. Und diesen Gang haben die, wie ich sie genannt habe, „demonstrierenden 68er“, je nachdem aus welcher politischen Ecke sie kamen, auch angetreten. Die einen sind diesen Weg stringent gegangen, ohne sich philosophisch und politisch anpassen zu müssen, und die anderen, die die Apparate des Staates verändern wollten, sind von dieser Maschinerie assimiliert und staatstragender geworden als ihre vormaligen politischen Gegner. Staatstragender deshalb, weil man ihnen bisher noch keine kriminellen Machenschaften vorwerfen kann. Einige Beispiele wie Ulla Schmidt oder Reinhard Bütikhofer habe ich angeführt.

    Was ich allerdings nicht kann, ist „unechte Sozialdemokraten“ von anderen Sozialdemokraten unterscheiden. Vielleicht kannst Du den von Dir eingeführten Begriff erläutern. Ich befürchte jedoch, dass ich diese Verfeinerung der Begrifflichkeit nicht nachvollziehen können werde.

  37. @ Susanne

    Nachsatz 1:

    Wenn ich aus Ihrem Stichwoet „totalitäre Konzepte“ den Begriff „Gewalt“ machte, dann deshalb, weil „totalitäre Konzepte“ für mich erst einmal zu weit entfernt, in der Theorie von der Politik definiert ist. Theoretische Konzepte davon wesentlich dem „kalten Krieg“ geschuldet sind und für mich keine fruchtbare Erkenntnis bergen.

    Nachsatz 2:

    Da wären wir dann bei den von Ihnen nachgefragten Theorien und deren Wichtigkeit:

    Für mich kann ich nur sagen, die Namen/Bücher sind hier im Blog schon genannt worden, man könnte noch einige dran hängen, für mich ruhig auch noch ein paar Schriftsteller, Filmemacher, Theaterleute. Aber kein names dropping hier. Aber eines: Ohne diese politische, wie poetische Literatur keine Erkenntnis, keine Affinität, Begeisterung für das, was Sozialismus/Kommunismus MIT MENSCHLICHEM Antlitz sein wird, wenn …

  38. 40. Kommentar von: bakunix

    Möglich dass wir gar nicht soweit auseinander liegen:

    1) Für mich bedeutet „Marsch durch die Institutionen“, natürlich immer auch (revolutionäre) Änderung und Übernahme der Institutionen. Ich würde nie auf die Idee kommen – es sei denn ironisch – diesen Begriff mit den Individuen der nachstrebenden herrschenden Elite zu verknüpfen, die nur nachrücken, im plattesten Sinne „durchmarschieren“, aber eben nur die Herrschaft stabilisieren allenfalls verschärfen. – Da war unser Mißverständnis wohl fast unvermeidlich.

    2) „Unechte“ und „echte“ Sozialdemokraten vs. Reaktionäre – von aufrechten Konservativen, redete ich nicht.

    Ich gebe zu, hier schwingt – immer noch – ein wenig, ein wenig viel, aber wahrscheinlich vergangene Hoffnung mit. Alls ich „Willy wählte“ erschien mir die Sozialdemokratie noch als Hoffnungsträger, seit spätestens dem Nato-Doppelbeschluss ist die mir dort vergangen. Sie bei den Grünen zu suchen und zu finden hat nicht viel länger gehalten.

    Für heute sind wir wahrscheinlich fast einer Meinung, da gibt es praktisch nur noch „Unechte“, mal mehr, mal weniger ausgesprochen. – ok?

  39. Lieber 68er,
    vielen Dank für Ihre plastische, persönliche Schilderung zum Gewalt-Aspekt.
    Ihr Nachsatz Nr. 1 stellt sich mir allerdings etwas rätselhaft dar. Ich verstehe ich nicht, was Sie damit meinen, wenn sie schreiben, „totalitäre Konzepte“ seien für Sie erst einmal zu weit entfernt , in der Theorie von Politik definiert. Könnten Sie dies bitte konkret an einem Beispiel verdeutlichen?

    Grüße
    susanne

  40. Liebeb Susanne,

    ich will es versuchen:

    „Totalitäteres Konzept“, wäre für mich zunächst nur ein anderer Ausdruck für „Begründung von“, bzw. „Durchführungsanweisung für“ Dikatatur (in allen Schattierungen). Auch die politische Theorie – (ich gehe jetzt hier nicht in die Details – heinrich möge mir verzeihen, oder es genuer zeichnen, mich evtl. auch berichtigen) – im ersten Nachkriegsdeutschland nutzte den Ansatz der „Totalitarismustheorie“, die im Kern revisonistisch ist, Unvergleichbares vergleicht und einmaliges Unheil relativiert.

    Da ich eine eben politiktheorethische Diskussion dieses gleichwohl sehr gesellschaftswirksamen Themas aus Ihrer Frage mir nicht erwachsen sah (sehen wollte?), habe ich es auf den in der Tat plastischeren, persönlichen Begriff der Gewalt, so wie sie mir persönlich (im Elternhaus neben der dort auch erfahrenen Liebe), wie im weiteren, dann auch politischen Umfeld (z.B. auch des Vietnamkriegs) mir entgegentrat, projeziert und versucht zu antworten.

    Ist das klärend genug?

  41. Lieber 68er,Danke für die Antwort. Leider ist heinrich gerade nicht hier, um zu klären, was er mit der „Affinität gegenüber totalitären Konzepten“ genau meint. Ich verstehe dies doppeldeutig. Zum einen kann der Begriff tatsächlich synonym mit Diktatur verstanden werden, so wie Sie dies aufgefasst haben. Konkret auf Teile der 68er bezogen, könnte damit zum Beispiel die Idealisierung Che Guevaras oder des Systems der DDR gemeint sein. Ich habe in Meyers Taschenlexikon nachgeschlagen. Dort findet sich unter Totalitarismus: (…) Ziel totalitärer Herrschaft ist es, ein umfassendes neues Wertesystem durchsetzen.“ (..)
    Die Umsetzung eines neuen Wertesystems war Teilen der 68er Bewegung sicher ein Anliegen. Um neue Werte überhaupt zu formulieren, muss man sich jedoch auf ein geschlossenes Welterklärungsmodell berufen. Ohne Welterklärung keine neues Wertesystem. Halten Sie diesen Absolutheitsanspruch in Teilen der Bewegung nicht für problematisch?

  42. @ 68er/susanne

    Obwohl ich nicht die umfassenden Theoriekenntnisse von Heinrich habe, bin ich sicher, dass 68er den Theoretikern des Totalitarismus (zu denen z.B. auch Hannah Arendt zählt) Unrecht tut, wenn er sie in die Nähe des Geschichtsrevisionismus oder der Relativirung der NS-Diktatur bringt.

    Dei der Totalitarismus-Theorien ging es darum, strukturelle Grundlagen von Diktaturen und den sie tragenden Bewegungen (wie Nationalsozialismus oder Stalinismus) zu diskutieren. Ich denke, dass dieses Anliegen immer noch Berechtigung hat, wenn dabei eine Gleichsetzung von Ungleichem vermieden wird.

    Zurück zum Text von Götz Aly: Der heutige Beitrag von Beate Schappach und Andreas Schwab „Scham und Schweigen“ finde ich sehr beachtlich. Offensichtlich schaffen es jüngere Autoren weit besser als Narr und Genossen, das Wesentliche zu schreiben.

  43. Liebe Susanne,

    Heinrich ist im Moment gerade hier und doch nicht hier. Aus Zeitgründen kommt er im Augenblick nur zu kursorischer Lektüre und droht hier den Überblick und Anschluss zu verlieren. Außerdem hattest du ja auch 68er um eine Erläuterung von Heinrichs ausnahmsweise gelungenem Beitrag gebeten.

    Der war heute in der Bibliothek, um sich Informationen für eine Antwort auf deine Fragen vom soundsovielten zu verschaffen, die er seinen ebenfalls bis unter die Decke mit Büchern angefüllten Regalen nicht entnehmen konnte und die er mal nicht aus der Tasche ziehen kann.
    Also: zähme bitte deine jugendliche revolutionäre Ungeduld und foppe hier nicht das ergraute Publikum mit satirischen Erzählungen, die du dann mühsam erklären musst!

    Hat dir dein Onkel nicht erzählt, dass 68er ernste Leute sind und nicht jeden Spaß verstehen? Was ist aus dem geworden? Ich hatte genauso eine Nichte als Ersatztochter, die aber leider missraten ist, eine Top-Karriere gemacht hat und nur noch vom Geld redet. Kann man also nicht dich adoptieren? Die Schokolade gab es bei mir aber immer nur in heißer flüssiger Form als Schlaftrunk nach angeregten und anregenden abendlichen Debatten.

    Wie gesagt: Antworten ggf. später
    Schöne Grüße von
    Heinrich

  44. Lieber abraham,
    ich habe mir soeben auch den Text von Schappach/Schwab durchgelesen. Ich finde ihn hervorragend bis zu der Stelle, die sich Adorno und dem Busenattentat widmet. Dass die Aktion als peinlich und demütigend beurteilt wird und die Aktion vor dem Hintergrund des Todes von Adorno einen Beigeschmack erhält, überzeugt mich. Aber die nun folgenden These vom Vatermord kommt mir doch überhöht vor.

    Lieber Heinrich,

    hast du denn nicht gemerkt, dass ich mich schon längst von dir habe adoptieren lassen?
    Ich freue mich darauf, weitere Beiträge von dir zu lesen.

    Bis bald
    susanne

  45. @ 45. susanne

    Liebe Susanne,

    ich habe auf die Schnelle in der Wikipedia – die mag heinrich nicht so, ich weiß – eine dafür aber kurze Begriffsbestimmung gefunden, die in die Richtung geht, in der ich auf politiktheoretischer Ebende zu diskutieren versuchte:

    „Totalitarismus bezeichnet in der Politikwissenschaft eine diktatorische Form von Herrschaft, die, im Unterschied zu einer autoritären Diktatur, in alle sozialen Verhältnisse hinein zu wirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen „neuen Menschen“ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen. Während eine autoritäre Diktatur den Status quo aufrechtzuerhalten sucht, fordert eine totalitäre Diktatur von den Beherrschten eine äußerst aktive Beteiligung am Staatsleben sowie dessen Weiterentwicklung in eine Richtung, die durch die jeweilige Ideologie angewiesen wird. Typisch sind somit die dauerhafte Mobilisierung in Massenorganisationen und die Ausgrenzung bis hin zur moralischen und physischen Vernichtung derer, die sich den totalen Herrschaftsansprüchen tatsächlich oder möglicherweise widersetzen. Als politisches Gegenmodell zum Totalitarismus gilt der demokratische Rechtsstaat mit durch Grundrechten, Gewaltenteilung und Verfassung gewährleisteten Freiheit der Staatsbürger.“

    Da wird auch gleich die Differenz „totalitär“ und „autoritär“ angerissen.

    Interesant in unserem Zusammenhang ist zunächst, dass diese Definition sich bürgerlichem Denken sofort anbietet, faschistische und sogenannte „real existierende sozialistische“ Herrschaft (also DDR, UdSSR, usw. in ihrem Wesen gleichzusetzen. Dies war/ist eine Theorie- und Propagandastrategie bürgerlicher Theorie, mindestens bis zum Niedergang der UdSSR; sie wird bei Bedarf (Auftauchen der LINKEN im deutschen Parlamentarismus, Disskussion der RAF, der 68er (!!!)) jederzeit wieder aktiviert.

    Da offenbart sich das weitere Problem, dass Du ansprachst: Der (angeblich) unbedingte Wahrheitsanspruch, aus dem die Herrschaft legitimiert sei.

    Diese beiden Gedankenstränge sollte man aber getrennt halten, je nach dem, ob man den Charakter, die je historische Begründbarkeit/Erklärbarkeit staatlicher/gesellschaftlicher Herrschaft politisch erklären will, oder ob man den Einfluss eines bestimmten Dogmas (Totalerklärungsmusters) und seiner individuellen Grundlagen in einer bestimmten Herrschaft, z.B. im Faschismus ODER im Sozialismus erklären will. Dadurch, dass beide zu autoritär-didaktorischen Methoden griffen oder nur monokausale Begründungsmuster anböten, macht es sie zwar vergleichbar aber nicht notwendig gleich.

    Die Totalitarismustheorie hat genau aus der äußerlichen Vergleichbarkeit eine innere Gleichheit geschlossen. – Det jeht nich!

    Ab jetzt müsste man (ich) ganze Bücher schreiben (können).

    Für die Linke Theorie will ich dazu im Augenblick hier nur folgendes sagen:

    Echte Linke Theorie, nicht verkommener Stalinismus o.ä. hat immer ein humanistisches, d.h. auch widersprüchliches, nicht eindeutig programmiertes Menschenbild (Rousseau, wenn man ihn so begriffe, war kein Sozialist). Linke Theorie bildet den Begriff dialektisch. Da gibt es nie ein Ende, da kommt immer wieder eine Frage und jeder aufgeklärte Geist kann da ein wenig anders antworten. Dass Linke Theorie immer auch ein Ziel hat, liegt in der Natur des Menschen: Er will immer (irgend) wo hin, und er will wissen und dem anderen erklären (können) wohin es geht. Das hat m.M. nach nichts mit irgendeinem Absolutheitsanspruch zu tun. (Aber so ungewiss zu leben, wie es Freund BvG manchmal aus seinen Texten erscheinen läßt, mag auch nicht jeder.)

    Für die „gewisse“ Hoffnung ist mir da Bloch der „unbedingte“ Gewährsmann.

  46. @ 46. abraham,

    vielleicht sollte/müsste man in diesem Blog tasächlich immer erst in die Bibliothek abtauchen, um dann neu gestärkt und aufgefrischt mit Hand, Fuß und Kopf zu schreiben.

    Nicht ganz so fit möchte ich Ihnen trotzdem gerne antworten: Auf die Gefahr hin also zu irren, wage ich die These, dass der traditionelle Totalitarismusansatz nicht haltbar ist: Auf der deskriptiven Ebene „Strukturen“ (strukturelle Grundlagen) zu benennen, die sich gleichen, zu gleichen scheinen reicht, wie wir uns beide einig zu sein scheinen, nicht, um Gleicheit auf der explanativen Ebene behaupten zu können.

    Ich glaube nicht, dass positiv beobachtbare, beschreibbare Strukturen in direkter Weise das Wesen einer Gesellschaft oder deren Herrschaftscharakter offenbaren, insbesondere, wenn Sie je isoliert oder nur in „gleichförmigen“ Gruppierungen betrachtet werden, ohne Bedingungen und bedingende Widersprüche auf denen Sie beruhen mit zu untersuchen.

    Ich glaube nicht, dass die Verbrechen z.B. des Stalinismus im Freiheits- und Gleicheitsversprechen des Sozialismus lag. Die Ausbeutung des Kapitalismus liegt auch nicht in dessen Glücksversprechen begründet.

    Und doch wird mit Anspruch sogar auf Wahrheit behauptet, der Sozialismus setze fälschlich einen Menschen voraus, der mit seinesgleichen gleich und frei leben möchte und könnte, während aber richtig sei, dass im Kapitalismus jeder Mensch in der Lage sei, seinem individuellen Glück nachzueilen und es sogar zu erreichen.

    Es ist für mich einsichtiger, praktischer, aber gar nicht einfacher nach den tatsächlichen Möglichkeiten unter realen Bedingungen nach den wirklichen Möglichkeiten von Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit und damit Glück zu suchen, als am historisch je gescheiterten Fall die Endgültigkeit des Jeweiligen Unglückszustandes zu propagieren.

    Der bürgerliche Geist verkündet uns im Zweifelfall seit je: „Es war schon immer so, es wird nie anders, es ist das Beste, was je war und im übrigen geht es auch gar nicht anders!“ Das nenne ich einen „totale Erklärung“.

  47. Nein, 68er, so einfach kann man es sich nicht machen. Über totalitäre Herrschaft haben genauso „linke“ Autoren geschrieben. Und nicht jeder strukturelle Vergleich läuft auf Gleichmacherei hinaus. Manche Fragestellungen sind für den Blog zu schwierig, da muss man wirklich die einschlägigen Bücher lesen.

  48. ja, abraham, ich wünscht´ ich hätt´ es einfacher, aber noch sind es gute siebeneinhalb Jahe zur Rente. Bis ich dann wieder mehr (nach)lesen kann, da wäre ich Ihnen schon ehrlich dankbar, wenn Sie mir hier sagen könnten wo ich es mir gerade zu einfach gemacht habe (s. o. 49.+50.). Ich wüsste nicht, in welchem Punkt genau ich welchen linken Totalitarismustheoretiker hier mit schlechten Argumenten angegrifffen hätte. Ich hoffte, die bürgerliche Seite einigermaßen gekennzeichnet zu haben. Wie unterscheidet sich die linke Theorie in diesem Fall von der bürgerlichen?

  49. @48. Susanne (Busenattentat und Vatermord)

    Ihr Gefühl, dass die These vom Vatermord überhöht ist, täuscht sie nicht. Diese These ist schlicht falsch und wurde spätestens im Adorno-Jahr 2003 ad absurdum geführt. Und im übrigen bezweifele ich sehr stark, dass die beiden Autoren hier überhaupt mehr als oberflächlich recherchiert haben („kaum jemand der von uns befragten Zeitzeugen erinnert sich, bei der Aktion anwesend gewesen zu sein“). Der ganze Abschnitt scheint ziemlich abgeschrieben und sinnentstellend gekürzt einer Recherche des Tagesspiegels vom 7.12.2003 entnommen zu sein. Eine der wesentlichen Passagen dort lautet allerdings nach Befragen einer der Busenattentäterinnen:

    „Es sollte eine lustige Aktion werden, ein Happening. Sie war 26 und gerade mit einem Stipendium ein halbes Jahr in New York gewesen, hatte einen Abend in Andy Warhols verrückter Factory verbracht, ein anderer Deutscher hatte sie mitgenommen, und dann hatte Andy sie eingeladen, eine Skulptur zu schweißen. Jetzt wollten Hannah und ihre Freunde ein bisschen Andy Warhol nach Frankfurt bringen. Und außerdem, natürlich, wollten sie sich über Adornos Verhältnis zu den Frauen lustig machen. Adornos viele Liebesaffären waren bekannt, und ‚während der Vorlesung ließ er immer seine braunen Augen die erste Reihe entlangwandern, von einer blonden langhaarigen Studentin zur nächsten‘. Obwohl blond und langhaarig, saß Hannah Weitemeier selbst nie in der ersten Reihe, sondern etwas weiter hinten, am Rand. Es sei ihr Freund Alfred von Meysenbug gewesen, Meyse, der gesagt habe, aus Adornos Schwäche für die Frauen ‚müssen wir ’n Spaß machen‘.“

    Weitere Fakten:

    Zu Beginn der Vorlesung wurde Adornos Verhalten während der Besetzung seines Instituts hinterfragt werden (er hatte die Polizei gerufen und einige Besetzer waren vorübergehend festgenommen worden). Dann kam der Happening-Auftritt, dann Adornos Rückzug, der ihm weitere unangenehme Auseinandersetzungen wegen der Institutsbesetzung ersparte.

    Aus demselben Tagesspiegel-Artikel hätten die Autoren auch folgendes zitieren können – aber das hätte ja nicht zur unhaltbaren Vätermord-These gepasst:

    „Adorno starb drei Monate später nach einem Ausflug in 300m Höhe. Heute sind sich die Biografen einig, dass Adornos schwaches Herz an seinem Tod schuld war, nicht das Ereignis im Hörsaal VI, dann noch eher eine unglückliche Liebe, die ihm das Leben schwer machte.“

    Richtig ist wohl, das Günter Amendt die Aktion beschämend fand. Richtig ist aber auch, dass er die inhaltliche Auseinandersetzung mit Adorno für gut und richtig gehalten hat.

    Ausführlicher nachzulesen in diversen Stellungnahmen und Interviews von Adornos Assistenten zum Adorno-Jahr – und auch in sehr differenzierten Artikeln der (alten) Frankfurter Rundschau 😉

  50. Arbeiten wir hier jetzt die so genannten “68” auf.? Oder beginnen wir hier eine akademische Debatte?
    Der Aufbruch war sehr vielfältig und nicht nur an den Universitäten zu spüren. Hinter uns lag eine miefige Zeit mit sehr engen Moralvorstellungen. Und einer ekelhaften Doppelmoral! Die Väter meiner Freundinnen waren Wangentätschler und Pokneifer. “Du armes Kind, hast ja keinen Vater kennen= gelernt:” Und dieses Getuschel in den “intakten” Familien zwischen Müttern und Kindern (darf der Vater nicht wissen!), diese Verlogenheit und Unaufrichtigkeit dieser Zeit. Die war doch ekelhaft. Ich bin als Kind in die damals noch bestehenden Bunker gegangen, die noch bewohnt waren und in denen Mitschüler von mir lebten. Die habe ich dort besucht. Dort konnte man in den Gängen Rollschuhlaufen. Fand ich ganz toll! Aber gelebt haben die Menschen dort auf unglaublich engem Raum. Ohne Fenster! Kochen auf den Gängen und ein Privatleben in den engen Zellen auf Doppelstockbetten.. Wir bewohnten damals schon eine Genossenschaftswohnung, und waren mit vier Personen auf höchstens 60m² schon sehr privilegiert. Das waren die 50er Jahre, da war ich ein Kind, mit nichterlebten aber gehörten Kriegsereignissen. Später kam auch die entsprechende Lektüre dazu: Wolfgang Borchart, Heinrich Böll usw.
    Jetzt will ich hier nicht mein gesamtes Leben erzählen, aber es erklärt vielleicht, warum ich Schlagwörtern “bürgerlich” , “revisionistisch” nicht folgen kann. Menschlich, gewaltfrei – eine Utopie für alle Menschen dieser Welt.

  51. Na ja, diese Welt wünsche ich mir und ich weiß auch, dass wir dieses Ziel wohl so schnell nicht erreichen, egal welche wohlgeformten Worte und Theorien wir dazu entwickeln.

  52. @Fiasco, (Busenattentat, Vatermord)
    Danke für ihre erhellenden Ausführungen. Ich habe übrigens in einem Philosophiebuch nachgeschaut, das 2005 erschienen ist. Es enthält so gut wie keine Abbildungen, jedoch das besagte Foto vom Busenattentat. Allerdings ist dieses so unscharf, dass man erst auf den zweiten Blick überhaupt wahrnimmt, dass es sich um DREI Attentäterinnen handelt. Dass die Szene irgendetwas mit entblößten Brüsten zu tun haben könnte, auf die Idee wäre ich ohne Betitelung des Bildes beim besten Willen nicht gekommen. Nun ja.

    Ich werde in den nächsten Tagen keinen Internetzugang haben. Wundert Euch also nicht über mein stoisches Schweigen.
    Grüße
    Susanne

  53. Liebe Susanne, epikureische Stoikerin, das entlastet mich ein wenig, gibst du mir dadurch doch ein wenig Zeit für meine Antworten an dich und Abraham, die mir im Gegenzug ja draufhelfen können, was an dem Artikel von Schappach/Schwab so gut sein soll.

    @ I. Werner
    „Arbeiten wir hier jetzt die so genannten “68” auf.? Oder beginnen wir hier eine akademische Debatte?“

    Worauf wollen Sie genau mit Ihrer kritischen Frage hinaus?
    Aly gibt uns hier auf, sowohl die 68er als auch die NS-Zeit aufzuarbeiten, was ich auch etwas viel finde. Aber soll Ihr Einwand besagen, hier sollten nur persönliche Erfahrungsberichte und Urteile zu 68 erscheinen?
    Finden sie, dass Susannes Frage, „ob das Bürgertum der Weimarer Republik tatsächlich so individualistisch gesinnt ist, wie dies das Zitat glauben machen möchte, bzw. wie es Aly kontrastiert. Waren nicht gerade im Bürgertum die preußischen Tugenden wie Pflichterfüllung und Gehorsam stark verankert?“ hier deplatziert ist, an deren Antwort, die ich leider nicht bei Wikipedia finde, ich seit Tagen herumkaue?

  54. @68er # 52

    Ich habe mich auf Ihre Bewertung der „Totalitarismustheorie“ bezogen, die Ihrer Meinung nach „im Kern revisonistisch ist, Unvergleichbares vergleicht und einmaliges Unheil relativiert“. Dies halte ich in dieser Allgemeinheit für unzutreffend.

    Mit der Aufteilung in „linke Theorie“ und „bürgerliche“ kann ich wenig anfangen. Ist Hannah Arendt „bürgerlich“? Es gibt viele liberale Demokraten, die sich sicher nicht als links verstehen und durchaus dem „bürgerlichen Lager“ zuzuordnen sind, deren Gedanken wichtig und richtig sind.

  55. @ 51. abraham

    (Fortsetzung)

    Wenn wir die Totalitarismusdefinition von

    C. J. Friedrich und Z. Brzezinski annehmen (s. Spiegel.wissen.de), nach der totalitäre Herrschaftsordnungen sich durch folgende sechs Wesensmerkmale auszeichnen:

    1. Die gesamte Staatsmacht liegt in den Händen einer streng hierarchisch aufgebauten Massenpartei, an deren Spitze ein einzelner Diktator oder eine diktatorisch regierende Gruppe steht.

    2. Der Staat hat das Monopol auf Meinungsbildung und Nachrichtenverbreitung und kontrolliert alle Massenkommunikationsmittel.

    3. Er vertritt eine Ideologie, die für alle Lebensbereiche verbindlich ist und mit Methoden der Massenpropaganda verbreitet wird.

    4. Die Führung setzt ihren Willen mit terroristischen Mitteln durch; dem willkürlichen Vorgehen der Geheimpolizei sind keine rechtsstaatlichen Grenzen gesetzt.

    5. Es gibt ein staatliches Waffenmonopol.

    6. Die Wirtschaft wird zentral gelenkt.

    und Hannah Arendts Charkterisierung (a.a.O.), dass

    Bestimmte Gruppen (Juden, Kulaken) von totalitären Regimen als Feinde (Rassenfeinde, Klassenfeinde) identifiziert und dann vernichtet würden

    hinzu, so bleibt die Frage, inwieweit solche „strukturellen“ Merkmale die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus/Kommunismus rechtfertigen.

    Eine politische Theorie ist nicht erschöpft darin formale Gleichheiten zu beschreiben. Wenn ein korrummpierter Sozialismus in Form des Stalinismus historisch eine Reaktion auf den Faschismus darstellt, dann wäre zu klären, ob die Gründe für die Monstrosität beim Einen wie beim Anderen einfach in ihnen selbst lägen, oder ob die historische Situation im Falle des Sozialismus bisher tatsächlich noch nicht entwickelt genug ist (und war) sich „frei“ zu entfalten, dagegen dem herrschenden Kapitalismus erlaubt(e), nicht nur seine eigene schlechteste Seite herauskehren zu können, wie das vielleicht doch Bessere nicht nur zu verhindern, sondern zu korrumpieren und zu desvouieren?

    Oder einfacher gesagt: Natürlich waren Stalinismus und Faschismus (Arendt meinte wohl das China Maos würde in dieser Reihe noch folgen, sonst sah sie wohl keine weitere Realisierung) beide unmenschliche Herrschaftsformen, die man nach formalen Kriterien unter demselben Namen rubrizieren könnte, aber die Verheißung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz durch die Form und Praxis bürgerlicher Herrschaft Kapitalismus (Unterform Faschismus) negieren zu können, das halte ich für unmöglich.

  56. 58. Abraham

    Entschuldigen Sie, wenn ich Sie falsch verstanden haben sollte, aber mir schien, sie hätten einen Unterscheidung in „bürgerliche “ und „linke/liberale“ Totalitarismustheorie intendiert, wobei z.B. die arendtsche Variante nicht den Fehler beginge, Verschiedenes gleichzusetzen nur aufgrund der Formengleichheit (an der Oberfläche).

    Ansonsten wäre ich an Ihrer Argumentation interessiert, inwiefern die Totalitarismustheorie dem Vorwurf entgehen kann, über strukturell-formale Feststellung (Deskriptive Adäquatheit) von Gleicheit nicht zur explanativen Adäquatheit eines Nachweises der Wesensgleichheit, der Begründungsgleicheit im je historischen Kontext vorstoßen zu können.

    Vielleicht bietet mein Beitrag #59 dort einen Einstieg für Sie?

    P.S.: Heinrich sei auch eingeladen

  57. Kann nicht dienen, 68er, da ich nicht die Fachkenntnisse habe. Könnte Ihr Problem sein, dass Sie jede Form des Sozialismus durch „Totalismustheorie“ angegriffen sehen? Ich denke, dass bei ausreichender Differenzierung (Stalinismus ist nicht gleich Kommunismus und nicht gleich Sozialismus sowie Nationalsozilismus nicht gleich Faschismus ist – letztere Gleichsetzung gehört meiner Meinung nach auch zu den Irrtümern von 68) bei dem Vergleich totalitärer Diktaturen mehr als nur (oberflächliche) Formengleichheit herauskommt. Vielleicht kann Heinrich mehr beitragen, wenn er die anderen Fragenkomplexe abgearbeitet hat.

  58. 61. Abraham

    Danke, Abraham.

    Hier nur einen kurze Antwort: Natürlich gibt es für mich nur eine anzuerkennende Form des Sozialismus, nämlich die eines freiheitlichen, jeden echten Versuch dazu. Dieser ist auch jeder angemessenen politisch-historischen Kritik ausgesetzt. – Unter dieser Prämisse halte ich den (klasssischen) Totalitarismusvorwurf allerdings grundsätzlich für unangemessen. Es ist klar, dass eine , dann Pseudokritik, die sich z.B. am Stalinismus abarbeitet aber damit den Sozialismus meint, für mich so nicht treffen kann.

    Ansonsten warte ich jetzt auch erst einmal gerne auf heinrichs Beitrag, wenn/wann er denn kommt.

  59. Aber kein ernsthafter Vertreter der Totalitarismustheorie würde z.B. den CSR-Sozialismus der Novotny-Zeit (den ich als undemokratisch und unsozial erlebt habe) als totalitär bezeichnen. Selbst das Husak-Regime nach 68 (vor dem ich geflohen bin) war nicht „totalitär“, wenn auch hochgradig repressiv.

    Was Sie, nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, unter „Sozialismus“ verstehen, wäre eine interessante Debatte. Ob es Bronski gefallen würde?

  60. Liebe Bloggerinnen und Blogger,

    die Diskussion geht ins Verwinkelte. Fast elfenbeinturmartige Theorieprobleme werden behandelt, zwischendrin von biografischen Rückblicken unterbrochen oder umgekehrt.

    Müsste nicht nur ein Sprung in die Zeit vor 40 Jahren gemacht werden, müsste nicht gefragt werden: Was lehrt uns das?

    Wir befinden uns in einer Hochphase der Kapitalismusrestauration. Ich will nicht alles wiederholen, aber dennoch einige Stichworte nennen: Ausbau des Niedriglohnsektors, Ausbreitung der Leiharbeit, Abschaffung des Datenschutzes, Militarisierung der Europäischen Union, Privatisierung der Bildung an Schulen und Hochschulen, Verzweckung der Studieninhalte zugunsten wirtschaftlicher Verwertbarkeit, Vermüllung und damit Instrumentalisierung der Medien, Ausbeutung der Umwelt, Machtabgabe der Parlamente an die lobbyistischen Vertreter der Großkonzerne, Verscherbelung des öffentlichen Vermögens an Investoren, Privatisierung des Rentensystems und des Gesundheitswesens, Förderung des Spekulantentums (Hedgefonds) …

    In dieser gesellschaftlichen Situation, in der nach meinen Erkenntnissen nur ein winziger Anteil der Gesellschaft profitiert, weil er mit Hilfe der Politik und den gekauften Medien (z.B. Werbegelder) den Menschen die materiellen und rechtlichen Grundlagen, die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben sind, systematisch entzieht, müssten konkrete handlungsorientierte Konsequenzen ins Zentrum der Überlegungen gerückt werden.

    Oder habt Ihr alle resigniert und ruht Euch auf Eueren postachtundsechsziger Erkenntnissen aus? Die Frage stelle ich mir auch selbst!!!

  61. Für Bakunix #64:

    Dienstag, 13. Februar 1968, Nr. 37
    F r a n k f u r t e r Rundschau, Seite 2

    Freie Aussprache

    „Warum die Tomaten fliegen“
    Es gibt nur wenige deutsche Tageszeitungen, die so real wie die FR in Zieglers Leitartikel vom 9. Februar die miserable politische Arbeit der westlichen Welt als Ursache jugendlicher Auflehnung gegen Rechts- und Sittenordnung der Bundesrepublik nachweisen. Es ist schlimm, daß diese Erkenntnisse sich nicht einwandfrei als Fazit der Parlamentsdebatte und Anstoß zur Erneuerung unseres Staatswesens niederschlagen. Am besten In der Aufkündigung der Großen Koalition, deren ideologischer Aberwitz uns die ständig wachsenden Unruhen beschert hat. Die in der Adenauer-Aera von CDU/CSU mit Unterstützung des sich nun endlich läuternden Liberalismus betriebene Restaurierung des Vergangenen und Konservierung des Bestehenden hat die Einbeziehung Westdeutschlands in ein defensives System von Formaldemokratie gegenüber einem dynamisch offensiven des Ostens vollzogen. Vietnam, wo der Westen unbelehrbar und inhuman einen mit ideologischen Mitteln vorgehenden Gegner mit militärischer Kraft niederwerfen will, ist krasser Ausdruck für die Sterilität westlichen „Geistes“. Daß eine unter dieser geistigen Leere leidende Jugend revoltiert, so gut sie kann, ist logisch. Daß sogenannte Nationaldemokraten aktiv werden, ist ebenfalls ein Beweis für die Bonner Fehlleistung. Den in der CDU/CSU vereinigten konservativen Kräften kann eine Sozialdemokratie alten Stils ebensowenig Einhalt gebieten wie eine FDP alten Stils. Wer in diesen beiden Parteien, in denen sich maßgebliche Vertreter einer echten demokratischen Elite durch Schema- und Machtdenker zu lange unterdrücken ließen, ruft zu einem Ende der die Krise von 1966 noch verschlimmernden Großen Koalition auf? Moderne Glieder eines geläuterten Sozialismus und eines geläuterten Liberalismus müssen koalieren! Nur dann kann Deutschland helfen, im Westen eine Dynamik zu entwickeln, die nicht auf zivilisatorisch attraktive Züge reduziert ist, sondern geistig aktiv wird. Durch eine dem Kommunismus weit überlegene Initiative zu einer Gesellschaftsordnung, die der Berliner Bundestagsabgeordnete William Borm so kennzeichnet: „eine Gesellschaft, welche die Rechte des Individuums ausgewogen gegen die Funktion des Staates stellt — eine Gesellschaftsordnung, in welcher der Ausgleich zwischen Persönlichkeit und Organisation gefunden ist“. Das ist die Alternative zum Osten, der das Individuum .nur als Glied der Masse gelten läßt. Weil sich unser halbautoritärer Staat unter Mitwirkung der offiziellen SPD diesem die Rechte des Individuums verachtenden Stil angepaßt und das Grundgesetz zu einem Fetzen Papier degradiert hat, sitzen wir so in der Tinte.

    Kurt Stolzenberg, Frankfurt a. M.

  62. Kommentar zu #65. 68er

    Hätte ich in dem Leserbrief des Herrn Stolzenberg aus 1968, 2008, aus 1966, 2006, aus William Borm, Burkhard Hirsch gemacht, wer hätte die Unterschiede bemerkt?

    Wer wollte den Vorschlag Stolzenbergs nicht mindestens auf Hessen anwenden wollen?

    Und doch ist das alles 40 Jahre alt.

  63. Nachtrag:

    Stimmt: Aus Adeneuer hätte ich noch Kohl machen sollen, aus Vietnam, Irak, aus Westdeutschland, Deutschland. Nur mit dem „geläuterten Liberalismus“ ist es schwer, der hat sich nämlich zurückgeläutert. Und die „revoltierenden Schüler“ sind unmöglich zu ersetzen.

  64. Da habe ich ja offenbar unbeabsichtigt etwas losgetreten, wodurch ich nun besser verstehe, was I. Werner offenbar als „akademische Diskussion“ ablehnt.
    Ich habe tatsächlich nach 68 so einige Affinität zum Stalinismus und zum Maoismus erlebt, so manche Missachtung des Grundsaatzes: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ (R. Luxemburg) durch Niederschreien, Lächerlichmachung usw. von Vertretern gerade nicht konformer Auffassungen, Diskussionen über die Legitimität von Gewalt im politischen Kampf, wo die Schwelle sehr niedrig angesetzt wurde. Exemplarisch hierfür, liebe Susanne, ist nach meiner Erinnerung J.P. Sartres Vorwort zu Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, das eine emphatische Hymne auf die Gewalt als solche der kolonial unterdrückten Völker darstellt. Solche Wandparolen, wie der Aufruf gegen die Heidelberger Rektorin Margot Becke-Goehring: „Bringt die Becke um die Ecke“, sind ja völlig indiskutabel.
    so etwas meinte ich mit der Notwendigkeit von später Selbstbesinnung und -kritik.

    Die Diskussion um die Totalitarismustheorie gehört dagegen m.E. in die siebziger Jahre, wo Wissenschaftstheorie groß geschrieben wurde und jeweils ellenlange Einleitungen in Anspruch nahm. Kühnl kritisierte damals die Totalitarismustheorie als zu sehr auf die Herrschaftsformen und zu wenig auf die Inhalte und Ziele bezogen mit dem Vergleich von zwei Küchenmessern. Sie können beide die gleiche Form haben, aber das eine dient zum Kartoffelschälen, das andere, um jemanden zu erstechen.
    Heute geht es nach meinem eindruck eher um die Forschungsergebnisse als um die Ansätze, und was da überzeugt, wird von den anderen übernommen.
    Ich lese heute genauso gerne bei Bracher oder Broszart oder Mommsen oder eben auch bei Götz Aly nach, wenn ein Erkenntnisgewinn dabei herauskommt.
    Gleichwohl: Was den „Nationalsozialismus“, der vom Sozialismus so weit entfernt ist wie irgendetwas, vom Faschismus im Grundsätzlichen unterscheiden soll, lieber Abraham, müsstest du mir erklären.

  65. Ach Jottchen: Adeneuer heeßt natürlich Adenauer und aus Bonn is Berlin jeworden, obwohl ick dit als Berlina nich fassen kann. Jetz ha icks aba, gloob ick. Beie SPD is ja alles beim Alten jeblieben, jedenfalls vor Willy.

  66. Lieber Heinrich,

    der Nationalsozialismus (der mit Sozialismus wirklich nichts zu tun hat) unterscheidet sich doch deutlich von anderen faschistischen Bewegungen und Staaten (Italien, Spanien, Portugal, Ungarn und Slowakei, um einige zu nennen, schon durch seinen eliminatorischen Rassenhass. Auf diese „Singularität“ wollte ich hinaus. Mancher „Antifaschismus“ vertrug sich gut mit einem als Zionismus verkapptem Antizionismus, was ich in der DDR als „tschechischer Werkstudent“ erlebt habe. (Zur vorsorglicher Klarstellung: Nicht jede Kritik am Zionismus oder Israel sehe ich als Antisemitismus.)

  67. Lieber Abraham,

    wir machen hier zu viele Baustellen auf, ich muss mich ein wenig beschränken und werde demnächst auch wieder kürzer treten oder pausieren.
    Wenn für dich der „eliminatorische Rassenhass“ das wesentliche Unterscheidungskriterium ist, ok., betrachtet man die Herrschaftsform nach der ökonomischen Funktion weisen die einzelnen von dir aufgezählten Regime doch sehr deutliche Unterschiede auf, was ich hier nicht vertiefen möchte.

    Ic vermute, du wolltest schreiben: „… mit einem als antizionismus getarnten Antisemitismus“, oder? Nun, bei verordnetem Antifaschismus und Antizionismus kann so ein Gebräu herauskommen, das kann ich mir vorstellen, das sagt aber nicht unbedingt etwas über die Stimmigkeit der Faschismusanalyse aus. Der Klarstellung bedarf es nicht: Ich halte dich nicht für ideologisch verbrettert.

  68. Heinrich, danke (auch für das richtige Lesen des falsch Geschriebenen). Wir können und müssen nicht alles klären. Und es gibt ja ein Leben außerhalb des Blogs.

  69. Schade, die Reaktionen auf Götz Alys Artikel zeigen, dass hier gerade eine Chance verspielt wird. Die Chance nämlich, dass wir uns auch mit unseren eigenen linken Gefährlichkeiten, Blindheiten und Unschärfen auseinandersetzen. Stattdessen werden Abwehrkämpfe geführt und Alys provokative Zitatfunde selektiv zitiert.
    Unter Freunden führen wir seit längerem offene Diskussionen über das Gute und Ungute unseres Verhaltens in der 68er Bewegung. Zwar waren wir auf der „guten“ Seite, zwar machten wir uns keine Illusionen mehr über Stalin und die Folgen, aber gegen Maos Millionenmorde standen Gewährsleute wie Beauvoir und behaupteten das Gegenteil; und Pol Pots Wüten unter seinen Landsleuten nahmen wir als übertriebene Berichte der bürgerlichen Presse. Was ich las und besonders was ich nicht las, unterlag einer ideologischen Auswahl. Menschenrechte für das chilenische Volk – keine Frage, aber für den politischen Gegner? Da wurde es schwammig im Hirn.
    Jede Menge Unschärfen gälte es gegen die eigene Scham zu bekennen. Inzwischen bezweifle ich, dass solche Diskussionen Alys Anliegen waren. Der Vergleich mit den Nazis lähmt die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun und Denken. Und vereinnahmt die vielen Initiativen und Reformansätze jener Jahre unter dem Verdikt der „Machtfrage“.

  70. @ Regine Wolfahrt

    Danke für Ihren Beitrag! Er zeigt ja doch, dass die Chance der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern und Blindheiten nicht unbedingt durch die „Abwehrkämpfe“ gegen Alys Thesen vertan ist. Sie greifen hier ja etwas auf und führen es fort, was unter anderen ich oben schon begonnen habe.

    Die von Ihnen angeführten Verharmlosungen und Verleugnungen entsprechen der Blindheit, die Kommunisten und deren antifaschistische Sympathisanten eine Generation vorher zum großen Teil gegenüber dem Stalinschen Terror an den Tag gelegt haben.

    Ich finde dies weiterhin eine schwierige Frage: wie weit kann legitimerweise die politische Identifikation und Solidarität mit Regimen oder Bewegungen gehen, welche man als fortschrittlich begreift, die sich aber nur mit Gewalt gegen ihre Widersacher durchsetzen und behaupten können?

  71. Bei aller Liebe zur Selbstkritik,

    aber der sanfte Ton der Altersweisheit, der hier gerade einzieht, geht mir dann doch zu weit.

    Es klingt hier ja geradezu, als müsste einem GUTEN Teil der eigenen Jugend abgeschworen werden, nur weil Väter, Onkel oder meinetwegen auch etwas ältere Brüder den Faschismus und Stalinismus, besonders Letzteren, verbrochen haben. Wenn 68er, und das nicht erst seit heute erkennen, dass schlimme, unverzeihliche Fehler begangen worden sind, von denen sehr sehr viele aber immer noch des Beweises harren, dass sie „notwendig“ deshalb gemacht wurden, weil linkes Gedankengut dabei war, dann braucht hier nicht pauschal formuliert werden, es habe sich um „Verharmlosungen und Verleugnungen“ gehandelt, die „der Blindheit, die Kommunisten und deren antifaschistische Sympathisanten eine Generation vorher zum großen Teil gegenüber dem Stalinschen Terror an den Tag gelegt haben“ entsprächen.

    Schon Hegel wußte. „…; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

    Als wir aufbrachen, war für uns ein neuer Tag nach einer Götterdämmerung angebrochen. Groß geholfen wurde uns auch nicht, und in die Gewalt aufgebrochen sind nur wenige, kein „großer teil“ – aus vielen Gründen.

    Wer heute weitergehend behauptete der sogenannte „internatinale Terrosismus“ sei ein Kind der 68er, würde nicht wissen, von welchen Vätern er da spricht.

    Die Altersweisheit sollte auch nicht härter mit der Hoffnung der zumal eigenen Jugend umgehen, wie sie die eignen Kinder nicht mit ebensolchen Prügeln zum Leben in der Welt der Erwachsenen austreiben will.

    Noam Chomski ein ausgewiesener Linker hat Pol Pot härter kritisiert, als jeder herrschende Politiker, ohne deshalb die Grundüberzeugung gewechselt zu haben.

    Aber ich gebe zu, leichter und „erfolgversprechender“ ist es heute, wenn man von der Globalisierung nur noch so redet, wie von Heusinger es heute im FR-Leitartikel „Die Gier-Wirtschaft“ tut: „Da wird eine ob ihrer Stabilität und ihres breiten Wohlstandes bewunderte Demokratie vom Neoliberalismus heimgesucht- und zwei Jahrzehnte später droht der gesellschaftliche Konsens zu zerbersten“.

    Wenn man vom Kapitalismus „heimgesucht“ wird, wie von einer Naturkatastrophe oder von Godzilla, dann ist das befürchtete Zerbersten, erst des Konsenses und dann der Zivilisation, natürlich erstens nicht vermeidbar, zweitens allem möglichen, mindestens dem „internationalen Terrorismus“, aber nicht denjenigen an den realen Schalthebeln der Macht geschuldet; Kollateralschäden, wie von Zeit zu Zeit geopferte Zumwinkel können da nicht ernsthaft anderes beweisen.

    Von Heusingers Ratschläge an den die Politik den Kapitalismus zu bändigen sind alt und erwiesenermaßen nutzlose Sonntagsreden. Von Heusinger kann z.B. nicht sagen, wieviel besser es dem Ärmsten im Kapitalismus denn gehen müsste, wenn er nicht neidisch und revolutionär renitent werden soll, nachdem z.B. ein Esser und seine Firma sich wieder mal „(auf)gebessert“ haben.

    Wer das Nichtlernen aus Fehlern, deren Folgen das Leben der Menschen heute bedrohen, belegt haben will, der lese weiter bei:

    http://www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=1288475&sid=07bc8a2502a9a8e9dce0bd3760d81dbc

  72. @ bronski

    off-topic

    Lieber bronski, ich schreibe jetzt mal in dem während der letzten Woche einzig wirklich angenommenen Blog, wegen dem Blog:

    Sie schreiben heute in der print FR

    s. http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/meinung/leserbriefe_aus_der_zeitung/?em_cnt=1288382&sid=85ca81ece93dc4d997dfea82c63898e0

    dass Sie „nun Leserbriefe im FR-Blog veröffentlichen, die auf der Print-Seite keinen Platz finden. Damit bemühe ich mich in Ihrem Sinne, Ihre Stimmen zur Geltung kommen zu lassen. Also: Hauen Sie in die Tasten! Schreiben Sie mir. Auf dass die Blog-Community wachse!“

    Da hätte ich nun gerne gewußt, ob Sie einen eigenen Leserbrief-Blog aufmachen, in den zu jedem Artikel dann etwas geschrieben werden könnte, das dann, quasi automatisch, auf „unbegrenztem Platz“ (=Originalzitat) veröffentlicht würde. Ein solcher Blog würde zwar m.M. nach dann doch sehr schnell etwas sehr unübersichtlich werden, aber sei`s drum bis jetzt ist jedenfalls dar nichts da.

    (Kleiner Vorschlag, wie es vielleicht gehen könnte: Wie wäre es mit einem Forum, in dem die Leser Unterforen jeweils gebunden an einen Artikel selbst eröffnen könnten, wo andere dann weiter mit diskutieren könnten. Das Ganze chronologisch nach Artikelüberschrift geordnet?)

    Statt dessen scheinen Sie die Rate der Neueröffnung von Themenblogs zu erhöhen. Das kann es aber wohl auch nicht sein, denn dann schreiben Sie ja doch weiter die Themen vor. Außerdem erhalten Sie zu jedem Blog im Schnitt – sehen wir von den wirklich Angenommenen, das sind ca. 2 – 3 Prozent, ab – im Schnitt nur etwa 5 – 20 Beiträge je Blog in ca. drei Wochen. Bei bisher im Schnitt höchstens 2 – 3 Blogneueröffnungen pro Tag, erscheint mir bei solcher Frequenz das Leserbriefaufkommen im Blog dann sogar geringer als beim klassischen Leserbrief, wenn ich Ihre Worte von dem steigenden Gesamtleserbriefaufkommen höre.

    Also: wie soll Ihr o.a. Angebot technisch umgesetzt werden. Wie soll es vom bloggenden Leser genau verstanden und wahrgenommen werden?

    Kleine Frage noch zum Schluss:

    Warum haben Sie die Hürde Sie „privat“ zu erreichen ein wenig erhöht, indem auf der Startseite des Blogs der direkte Zugang zu Ihnen { bronski@fr-online.de) entfernt wurde und jetzt nur noch ein blasser Verweis in der Form

    bronski{at}fr-online{punkt}de

    zu finden ist, man also erst in das eigenen e-Mail-Programm wechseln muss?

  73. off topic

    Lieber 68er,

    gucken Sie mal hier, wie ich mir das vorstelle. Diese Leserbriefe sind in der Print-FR nicht veröffentlicht worden, einfach weil nicht genug Platz zur Verfügung steht. Hier im Blog hingegen haben wir genug Platz dafür. Dabei will ich mich bemühen, einen thematischen roten Faden in den jeweiligen Thread zu bringen. Das werde ich sicher noch ein wenig üben müssen; wie bei allem Neuen sitzt das hier noch nicht ganz so, wie ich es mir vorstelle. Geben Sie mir ein bisschen Zeit.

    Nee, „Unterforen“ werde ich hier nicht aufmachen. Schließlich ist dies kein Forum, sondern ein Blog. Das ist von der Software her was völlig anderes.

    Die Frequenz, mit der ich hier neue Threads aufmache, wird sich vielleicht ein bisschen steigern, aber prinzipiell zwei pro Tag nicht übersteigen. Gestern waren es drei, weil ich ja die ganze Woche über kaum was neues angeboten hab; da hab ich Nachholbedarf gesehen.

    Bei dieser Gelegenheit: Blog ist die Bezeichnung für das Ganze hier. Die einzelnen Diskussionen zu den jeweiligen Themen werden „Threads“ genannt.

    Die Hürde, mich zu erreichen, wird wieder gesenkt werden.

    off topic Ende

  74. Also inhaltlich bezüglich der Bewertung des geschichtlichen Ereignisse 68er setze ich mich hier genauso wenig mit Harry Nutts Artikel „Sein Kampf“, wie ich es hier und hier mit Götz Alys, diese und die folgenden Diskussionen hier im Blog auslösenden Pamphlet „Die Väter der 68er“ getan habe. Aber es gibt einen, sozusagen „geschichtlichen“ Aspekt, dem ich hier nachgegen will:

    Sie wissen wer Kai Diekmann ist, richtig, immer noch Chefredakteur der B…-Zeitung und Buchautor. Im Oktober brachte er ein Buch heraus, „Der große Selbstbetrug – Wie wir um unsere Zukunft gebracht wurden“. Dass Aly trotzdem sein eigenes Buch herausbrachte und Herr Nutt ihm jetzt nach dem FR-Strickmuster „Zwei Rechts (Aly/Nutt) – zwei Halblinks (Grothian/Schappach) erneut sekundiert und damit Bronskis Argument, die FR-Redaktion stünde nicht hinter Alys Argumentation erneut als hohl entlarvt, ist schon sehr schlimm. Viel gravierender daran ist aber, daß Nutt, wenn er Aly auch in Einzelpunkten scheinbar kritisiert, Aly insgesamt recht gibt, sich dabei offen in einen Journalismus einreiht, den die aktuelle Springerspresse schon seit Herbst 2007 zum Thema 68 fährt und was Kai Diekman in seinem o.a. Buch auch vorgibt beweisen zu können: 68 sei nur ein Mythos und einer mit falschen Botschaften zumal.

    Man lese in der Welt „Kai Diekmanns Abrechnung mit den 68ern“ so wie dort außerdem unter „Weiterführende links“

    „Die 68er – Es gab kein „rotes Jahrzehnt“
    „Das erste Kapitel des Kai Diekmann-Buchs“

    Dass sich die FR hier einreiht in die Phalanx derer, die „es“ immer schon gewußt haben, ist tragisch. Eine gewisse Komik könnte aufkommen, wenn man weiß, daß sogar Alan Posener, Kommentarchef der „Bild“-Schwesterzeitung „Welt am Sonntag“ sich gegen Kai Diekmann wandte und mit Hilfe von Stefan Niggemeier damals dokumentiert werden konnte, daß die Springerpresse sich gegenseitig zensiert:

    man lese

    „Der große Selbstbetrug“ von Kai Diekmann

    „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann hat ein Buch angekündigt. Unter dem Titel „Der große Selbstbetrug“ schreibt er darin u.a.: „Das Erbe der 68er hat uns in eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, endlich umzukehren.“

    hier weiter:

    und auch hier

    Was Alan Posener, wie gesagt ein Springer Mann, gegen Diekmanns Interpretatin damals einwandte ist noch einmal hier dokumentiert :

    Selbst die SÜDDEUTSHE ZEITUNG berichtetet damals ausgiebig: „Einer muss es ja machen“ und hier (Kai Diekmann: Buch über 68er. Die Rache des Kulturministers)

    Das Alles hat man im Hause Vorkötter, wohl nie zur Kennnis genommen, genauso wenig, wie Alys frühe, identische Außerungen in der Welt vom Juli 2005: Explodierender Haß und glaubt sich nun brüsten zu können, eine wertvoll Diskussion „ausgelöst“ zu haben.

    Als Sahnehäubchen erhalten wir dann in der FR von heute auf Seite eins noch den Anmacher, der vom „Heldengedenken von 1968“ spricht, an dem Aly kratze. Die „Lesererinnerungen an 1968“, die ddie FR ketzt jede Woche bringt sollen dann wohl weiße Salbe für solche Kratzer sein, obwohl diese mir oft mehr als Salz in der Wunde erscheinen.

    Qulitätsjournalismus ist anders.

    So Heinrich, jetzt kannst Du Harry Nutt unter die Lupe nehmen, wenn Du etwas findest, das sich lohnte.

  75. @ 68er
    Auch ich freue mich auf Heinrichs kluge Kommentare. Insgesamt empfähle ich aber mehr Selbstbewußtsein; Diekmanns „Abrechnung“ kann Sie doch nicht berühren.

  76. @abraham

    oooch, an Selbstbewußsein mangelt es weniger und ich habe die wesentlichen Dinge im Zusammenhang mit den Aly-Positionen entweder schon selbst geschrieben, oder andere haben es getan. Die andere Seite, die Betrachtung und Kritik, wie die FR den Komplex journalistisch behandelt, wäre mir interessanter. Bekannte und mir sehr verwandte Geister haben auch dazu hier im Blog seit Mai 2007 viel gesagt; da liegen die Schwierigkeiten „woanders“. Aber auch da würde ich mich inzwischen (zu) oft wiederholen. So setze ich im Augenblick nur immer wieder eine Boje, wo das Fahrwasser der FR in immer erneute Untiefen übergeht.

    Aber ich hoffe, trotz und wegen des eigenen Selbstbewußseins, dass Heinrich doch noch wieder etwas Interessantes findet, dass wir, zusammen, auch mit Ihnen (?), dem Publikum exemplifizieren könnten.

    Natürlich kann mich ein Diekmann weder überraschen noch beindrucken, aber wenn die FR dort landet, dann bin ich, sagen wir einmal, traurig.

    Gruß

    68er

  77. @ abraham

    Um einen Link in den Kommentar zu setzen, ist es die einfachste Methode, eine URL-Adresse einfach hineinkopieren, also zum Beispiel

    http://frblog.de

    Wie Sie, sehen erscheint das jetzt blau mit Unterstrich im Blog und wenn Sie darauf klicken landen Sie auf der Startseite des FR-Blogs.

    Das konnen Sie im Blog mit jeder Internetadresse, die sie irgendwoher haben und auf die Sie verlinken wollen, machen.

    Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass Sie einen „Hyperlink“, den Sie von irgendwo her haben (das sind Texte auf einer Webseite oder in einem Wordtetxt, wie zum Beispiel „Startseite“, die, wenn Sie mit der Maus darüberfahren, sich anklicken lassen, und Sie dann auf das Ziel des Hyperlinks gelangen lassen, Der Mauszeiger verwandelt sich beim darüberfahren meistens in eine Hand). Sie können das ausprobieren, indem Sie hier oberhalb des Eingabefeldes und des Textes „Auch was zu sagen?“ über den unterstrichenen Text „Zur Startseite“ fahren. Dieser würde Sie beim Anklicken auf die Startseite des FR-Blogs bringen. In Ihr Posting kopiert, macht er dort dasselbe.

    Nur auf eines müssen Sie achten: Wenn sie mehr als 3 bis vier solche URL-Adressen in Ihren Beitrag kopieren, dann nimmt das Programm hier den ganzen Beitrag aus Sicherheitsgrüneden nicht an (Die genaue Zahl müsste uns Bronski sagen). Aber normalerweise mit 2-3 Links klappt es. (Ich habe in Nr. 78 einen kleinen Trick angewendet und Bronski oder eine andere liebe Seele hat meine Links dann „scharf“ gemacht. Solche Mengen sollten aber die Aussnahme sein, war für mich aber aus der Sache heraus diesmal praktisch nicht vermeidbar, und ich bedanke mich auch nochmal bei der guten Seele für die Arbeit).

    Jetzt viel Erfolg beim eigenen Ausprobieren und Einsetzen von Hyperlinks oder URLs.

  78. Zunächst eine kleine Fussnote: Alan Posener, der weiter oben erwähnt wurde, war einstmals auch ein 68er und später Kader der KPD/AO respektive des KSV. Jetzt hat er einfach Freund und Feind vertauscht und macht in bewährter Manier weiter.

    Sodann: Götz Aly argumentiert in seinem Buch genauso wie er es – teils gewiss nicht zu Unrecht – der Studentenbewegung vorwirft. Nämlich verbohrt, manichäisch und weltfremd. Differenzieren kann oder will er nicht.

    Und mit Wissenschaft hat es absolut nichts zu tun. Er hat eine These, die von vornherein feststand und sucht dann irgendwelche Fakten zusammen, die selbige belegen. Was dem nicht entspricht, wird einfach weggelassen. Diese Methode hat er wohl in seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit Karlheinz Roth gelernt.

    Geradezu grotesk ist seine These, die deutsche Gesellschaft habe nach der Periode der Hyperaktivität im Nationalsozialismus in eine Art Heilschlaf, ein künstliches Koma, versetzt werden müssen. Aber wenn man der Studentenbewegung *JEDES* positive Element absprechen will und sie zu einem Teil des Problems (Reformstau in den 50er/60er Jahren) erklärt, das zur Lösung desselben nichts beitrug, sondern es eher behinderte, dann muss man natürlich die 50er Jahre hochschreiben.

    Nach Aly sind Kitas, Bildungsreform, Bürgerprotest alles Dinge, die bereits in den Planungsstäben der Bundes- und Länderregierungen in Planung waren. Seltsam nur, dass dieselben Herren vollständig unvorbereitet auf die Proteste waren. Aber wahrscheinlich befanden sich auch sie noch im künstlichen Koma 🙂

    Vielleicht ist es gut sich zu erinnern, dass zwei der zentralen Slogans der Studentenbewegung waren:

    Rebellion ist gerechtfertigt

    und

    Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

  79. @ 83. Kommentar von: Farinet

    Ein interessanter gedanke Farinet:

    „Aber wenn man der Studentenbewegung *JEDES* positive Element absprechen will und sie zu einem Teil des Problems (Reformstau in den 50er/60er Jahren) erklärt, das zur Lösung desselben nichts beitrug, sondern es eher behinderte, dann muss man natürlich die 50er Jahre hochschreiben.“

    Wenn Sie mit „hochschreiben“, „fortschreiben“ meinen, dann ist die Arbeit der jetzt glücklicherweise zurückgetretten hessischen CDU-Kultusministerin ein wunderschönes Beispiel: deren Schulpolitik, z.B. nur die Gestaltung der neuesten Lehrpläne für das Fach Deutsch, ist ein „forward into the past“, dass es einem Angst wird: Die neueste Literatur dort, war dies auch schonvor 35-40 Jahren, von den Klassengrößen gar nicht zu reden. Wenn ein Herr Koch heute über die Psyche, die Behandlung von straffälligen oder gefährdeten Jugendlichen redet, dann wundert einen auch nicht, dass eine Ulrike Meinhof einmal über die Heimerziehung der 50iger und frühen sechziger Jahre verzweifelte, und die Bambule dann noch um einiges heftiger ausfiel als sie wohl selbst erwartete.

  80. Re 84

    Mit „hochschreiben“ meine ich, dass man die 50er Jahre aufwerten muss. Wenn man die Studentrevolte abwerten will. Das Schema ist doch einfach:

    Je besser (eigentlich) die 50er Jahre waren, desto geringer ist der Beitrag der Revolte zu den dann folgenden Veränderungen. Und um so unverständlicher . . .

    Vielleicht sollte ich noch eines betonen:

    Ich will *DIE* Studentenbewegung nicht verteidigen (aber einige Aspekte schon). Zu „Heldengedenken“ besteht wahrlich kein Anlass und wo es sich manifestiert, sollte man es auch kritisieren. Ich kann auch verstehen, dass die Jungen, wenn sie sich überhaupt dafür interessieren, dadurch schon mal genervt fühlen.

    Aber man kann doch nüchtern konstatieren, dass 1967 ff. einen Bruch in der Geschichte der BRD bedeutet hat (und sich dann Gedanken machen, wie, wo, und was daran positiv oder negativ war. Ebenso wie 1977 ein Bruch war oder auch der Einzug der Grünen in die Parlamente).

    Einmal abgesehen von allen Gehässigkeiten von denen insbesondere die ersten Seiten des Buches voll sind, Aly bestreitet generell den Bruch. Und das ist schlicht Unsinn. Und seine Gleichsetzung von Dutschke mit Goebbels, wenn man es mal personalisiert, lässt tief blicken, was sein theoretisches Differenzierungsvermögen angeht.

    Etwas anderes ist es, dass manche Emigranten, mit den protestierenden Studenten nicht zurechtkamen. Löwenthal und Fraenkel haben zwar nicht recht, aber man kann ihr Unbehagen zumindest teilweise nachvollziehen. Bei Löwenthal eigentlich weniger, denn als der noch jung war und Paul Sering hiess, hat er die Schrift: „Kapitalismus führt zum Faschismus“ verfasst und sollte eigentlich ein gewisses Verständnis für den Überschwang der Jugend haben. Und wenn auch nur im Sinne Shaws).

    In Alys Buch tauchen bezeichnenderweise andere Emigranten und/oder jüdische Intellektuelle, die nach Deutschland trotz der Nazizeit zurückgekehrt waren und die mit den Studentenprotesten sympathisierten, nicht auf. Jakob Taubes z.B., Peter Szondi, Hannah Arendt, Ernst Bloch . . .

  81. @ 104. eule70 im Blog
    „Als Kronzeuge ausgerechnet NSDAP-Kiesinger“

    Liebe Eule70, mich würde sehr interessieren, ob Sie die von Ihnen vertetenen Meinung und Hoffnung:

    „Nach der Lektüre der Randspalte „Hallo Bronski“ heute stelle ich mit Befriedigung fest, dass sich wohl die in meinem Kommentar 58 angeführte Alternative Nr. 1 bewahrheitet: man hat mal versucht, wie weit nach rechts man bei seiner Leserschaft gehen kann, und rudert nun zurück. … Jetzt hat Bronski das eine Woche später, nämlich nach der Diskussion, nachgeliefert. Also: ich hatte Recht mit meiner Begründung Nr. 1 :-). Vielleicht veranlasst das einige der Kommentatoren, ihre Kündigung vorläufig zurückzuziehen;…“

    nachdem Sie das erneute „Zurückrudern“ der FR ans alte Ufer durch Harry Nutt mit seinem Artikel „Sein Kampf“,zu Lesen online unter:

    http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1288999&

    zur Kenntnis nehmen mussten, noch aufrecht erhalten?

  82. Kreutzdunner, will’s denn mal durchdringen?

    Es gibt eine Menge anderer und besserer Väter und Mütter von 68ern und 68+-ern!

    Die von Aly angerührten Ideologiechromosomen der „33er“ sind nicht „NICHT!“ die Vererbungsmasse, die in mir wirkt.

    Diese pseudobiologische Melange ist widerlich!

  83. @Aly
    Ist das auch bloß ein Paris Hilton Manöver?

    Blödes quatschen, Aufreger schaffen und Tantiemen kassieren?

    Komm‘ Du mir in’s Heim!

  84. Liebe Mitblogger, ich finde es schade, dass viele Menschen in unserem, dem linken politischen Spektrum, die Chance nicht genutzt haben, die Alys Text uns geliefert hat.

    Statt das zu tun, was die 68er einst von ihren Vätern forderten, kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, verstecken sie sich in jenen bewährten Denkmustern. Wir sind gut, alle anderen sind schlecht.

    Sicherlich kann man die 68er Bewegung und den NS nicht miteinander vergleichen. Aber es ist doch durchaus auffallend, dass beide Bewegungen totalitären Machtanspruch hatten. Beide Bewegungen waren überzeugt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Und beide Bewegungen waren dazu bereit, für ihre Überzeugungen Kollateralopfer in Kauf zu nehmen. Dass hier also teilweise vergleichbare Denkstrukturen vorlagen, ist doch nicht von der Hand zu weisen!

    Ich würde mir wünschen, dass wir uns nicht in ideologischen Bunkern verschanzen, sondern uns offen dieser selbstreflexiven Diskussion stellen.

    Zuletzt möchte ich noch sagen: ich finde die Behauptung bezweifelnswert, dass die FR mit Alys Artikel austesten wollte, wie weit man nach rechts gehen kann. ( Beitrag 86 ) Ich verstehe die FR keineswegs als Blatt einer Meinung ( besser Ideologie?), sondern als linksliberale Zeitung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
    Statt eine kontroverse Diskussion mit Freude aufzunehmen und den in ihr enthaltenen Pluralismus zu würdigen, haben einige Leute ihr FR-Abo gekündigt. Ich finde dies nicht nur schade, sondern halte das auch für äußerst engstiernig und undemokratisch.
    Genau das, was die 68er einst an ihren Eltern kritisierten!

    Mit freundlichen Grüßen,
    Philipp Ebert

  85. Lieber Herr Ebert,

    ich finde es schade, dass Sie, bevor Sie andere auffordern, ihre „Denkstrukturen“ zu revidieren, die eigenen nicht einmal darauf überprüfen, inwieweit Sie nicht Positionen anderer bloß wiederkauen, die vorgeben, es immerschon gewußt zu haben, dass linkes Gedankengut nichts taugt, ohne je sich selbst ernstaft damit beschäftigt zu haben, bzw. im Nachhinein wohlfeile Legitimation für den Grundrechte- und Sozialrechteabau „vor“ und nach 68, den liefern. Vielleicht ist ihnen das nicht bewußt, aber es ist so. – Würden Sie auch zu einem schlicht legitimatorisch-affirmativen Kommentar des Herrn Kröter im Wirtschaftsteil sagen, er „habe die weuisheit mit Löffeln gefressen“, wenn er letzlich wieder keine Alternative zur „Globalisierung“ gelten lassen will?

    Die pauschale Formel vom wesensgleichen Totalitarismus bei Nazis und 68ern wird auch durch Wiederholung nicht richtiger. Interessanter solte es sein, sich mit dem totalen Herrschaftsanspruch des Kapitalisnmus, der da unter dem verschleiernden Rubrum „Globalisierung“ oder Neoliberalismus daherkommt und allgemein als unvermeidbar bis willkommen geheißen wird.

    Schließlich: Bevor Sie der neuen FR das Label Linksliberal anheften, hätte ich gerne mal eine kleinen Bestimmung des Begriffs und regelmäßige Beispiele aus der FR, die repräsentativ für die Mehrheit der redaktionellen Beiträge wäre. Bisher kann ich nuir feststellen, dass die FR ihre redaktionelle Arbeit aus eignenen Quellen nicht nur radikal eingeschränkt hat, sondern sie noch dazu in die Hände einer praktisach vollkommen erneuerten, im Schnitt nur noch halb soalten, ergo unerfahreren Redaktion der ca. 40-Jährigen gegeben hat, mit ebensolchen „Gastkommentatoren arbeitet, die definitiv nicht linksliberal sind, redaktionelle Arbeit, z.B. Bildgestaltung und Bildunterschriften redaktionsfremden Dienstleistern übergeben hat und mit wirtschaftnahen Multiplikatoren des Mainstream (Inititive Neue Marktwirtschaft) auf das Engste zusammenarbeitet. Der Mehrheitseigener Dumont ist zudem bis heute beui seinen eigenen Zeitungen in Köln nicht gerade durch Liberalität, geschweige denn Linksliberalität aufgefallen.

    Übrigens: Niemand hat die FR dafür angegriffen, einen eindeutige Meinung zu haben, die hatte sie früher auch, aber das ist jetzt einen andere, und das, d.h. die neue Idee ist zu kritisieren.

  86. Lieber Herr Ebert,

    ich finde es schade, dass Sie, bevor Sie andere auffordern, ihre „Denkstrukturen“ zu revidieren, die eigenen nicht einmal darauf überprüfen, inwieweit Sie nicht Positionen anderer bloß wiederkauen, die vorgeben, es immerschon gewußt zu haben, dass linkes Gedankengut nichts taugt, ohne je sich selbst ernstaft damit beschäftigt zu haben, bzw. im Nachhinein wohlfeile Legitimation für den Grundrechte- und Sozialrechteabau „vor“ und nach 68, den liefern. Vielleicht ist ihnen das nicht bewußt, aber es ist so.

    Würden Sie auch zu einem schlicht apodiktisch, legitimatorisch-affirmativen Kommentar des Herrn Kröter im Wirtschaftsteil sagen, Kröter „habe die Weisheit mit Löffeln gefressen“, wenn er letzlich wieder keine Alternative zur „Globalisierung“ gelten lassen will?

    Schließlich: Bevor Sie der neuen FR das Label linksliberal anheften, hätte ich gerne mal eine kleine Bestimmung des Begriffs und regelmäßige Beispiele aus der FR, die repräsentativ für die Mehrheit der redaktionellen Beiträge wäre. Bisher kann ich nur feststellen, dass die FR ihre redaktionelle Arbeit aus eignenen Quellen nicht nur radikal eingeschränkt hat, sondern sie noch dazu – nach außen hin zunächst geradezu geräuschlos -(die alten wurden für die Leser nicht einmal ehrenvoll verabschiedet)- in die Hände einer praktisach vollkommen erneuerten, im Schnitt nur noch halb so alten, ergo unerfahreren Redaktion der ca. 40-Jährigen gegeben hat, mit ebensolchen „Gastkommentatoren arbeitet, die definitiv nicht linksliberal sind. Redaktionelle Arbeit, z.B. Bildgestaltung und Bildunterschriften wurde redaktionsfremden Dienstleistern übergeben und man arbeitet mit wirtschaftnahen Multiplikatoren des Mainstream (z.B. der Initiative Neue Marktwirtschaft) auf das Engste zusammen. Der Mehrheitseigener Dumont ist zudem bis heute beute bei seinen eigenen Zeitungen in Köln nicht gerade durch Liberalität, geschweige denn Linksliberalität aufgefallen.

    Übrigens: Niemand hat die FR dafür angegriffen, eine eindeutige Meinung zu haben, die hatte sie früher auch, aber das ist jetzt eine andere, und das, d.h. die neue Idee ist zu kritisieren.

    Und ein Letztes: Die pauschale Formel vom wesensgleichen Totalitarismus bei Nazis und 68ern wird auch durch Wiederholung nicht richtiger. Interessanter solte es sein, sich mit dem totalen Herrschaftsanspruch des Kapitalisnmus zu beschäftigen, der da unter dem verschleiernden Rubrum „Globalisierung“ oder Neoliberalismus daherkommt und allgemein als unvermeidbar bis willkommen geheißen wird.

    Nein, keinen Krokodilstränen, allenfalls echte für einen FR, die es nicht mehr gibt, aber jede Kritik an ihr gegen schlechten Journalismus.

  87. Wer Interesse hat, zu sehen wo der Renegat Aly wahrscheinlich sein Vorbild gefunden hat, der lese einmal unter

    http://www.bpb.de/themen/4Q83FF,0,0,Denkmodelle_der_68er.html

    den sehr lesenswerten Aufsatz

    „Denkmodelle der 68er“
    von Wolgfgang Kraushaar

    aus dem Jahre 2001

    der 1968 sehr gut erschließt und vergleiche ihn mit dessen Revision in

    „Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf“
    von Wolgfgang Kraushaar

    aus dem Jahre 2007

    ebenfalls zu lesen unter

    http://www.bpb.de/themen/I3X3WU,0,Rudi_Dutschke_und_der_bewaffnete_Kampf.html

    Kraushaar ist Gewährsmann von Aly und es ist erschütternd zu sehen, wie ein Wissenschaftler die eigenen Ergebnisse und Einsichten sechs jahre später im Wandel des Zeitgeistes ohne weitere Argumentation offenbar nicht mehr nützen oder verstehen kann, und eben dem Zeitgeist folgend, sie über Bord wirft und seinen Nachfolger/Mitläufer findet.

    Im zweiten Aufsatz bringt es Kraushaar sogar fertig, Rudi Dutschke zum legitimierenden Theoretiker der Gewalt der RAF zu machen, während er im selben Text die Quelle Dutschke selbst referiert, die dies widerlegt. Keinen Gedanken verschwendet Kraushaar, was es bedeuten könnte, dass das Gewaltopfer Dutschke (11. April 1968) wohl kaum das ungebrochene Verhältnis zum bewaffneten kampf der RAf mehr haben konnte, mindestens seit dem „Deutschen Herbst“ im September und Oktober 1977, bevor er den Spätfolgen des Attentats im Dezember 1979 erlag, das ihm Kraushaar von Anfang an unterstellt.

  88. @ 93 68er

    Kommen Sie runter! Mit der Bezeichnung „Renegat Aly“ gehen Sie entschieden zu weit und bestätigen, dass Ihnen totalitäre Tendenzen doch nicht fremd sind.

  89. @ Abraham

    Entschuldigen Sie Abraham, aber Renegat meint „Abtrünniger“ und dass sowohl Kraushaar, als auch Aly sich von alten Denkmustern getrennt haben, sollte nicht strittig sein. Wenn ich diesen Tatbestand hier mit einem „alten“ Namen belege, dann macht mich das nicht zu jemandem mit totalitären Tendenzen.

    Ich beharre darauf, dass die wesentlichen Protagonisten der 68er weder eine totalitäre Herrschaft wollten, sie schon gar nicht errichteten. Die revolutionäre Rhetorik darf darüber nicht hinwegtäuschen oder für den gegenteiligen Beiweis genommen werden. Dutschke selbst sagte im Interview mit Gaus, dass die Linke niemals als – dann ja wohl diktatorische – Minderheit an die Macht kommen sollte oder wollte. Diese Erkenntnis hatte bei ihm mehr als taktischen Grund.

    Im Übrigen waren die 68er auch nur Menschen und der ungebärdige Drang nach Freiheit und Sozialismus sei nicht zu verwechseln mit dem Morddrang der Faschisten/Nationalsozialisten oder auch Stalinisten.

    P.S.: ich hoffe Sie haben meinen kleinen Anleitung zum Verlinken in postings nicht übersehen?

  90. @ 68er

    Bitte entschuldigen Sie, habe vergessen, mich für die technischen Hinweise zu Links zu bedanken!

    Mit Links scheint es einfacher zu sein als mit der Linken, die ich in München nach 69 kennen gelernt habe. Da hat es demokratische Sozialisten neben Altstalinisten, undogmatische Linke neben Dogmatikern, Totzkisten neben (durchaus zum Totalitären neigenden) Maoisten usw. gegeben, also auch genug Anlass zum kritischen Rückblick.

  91. @90. Heinrich; @93. 68er

    … und hier ein Verriss zu Götz Aly und seinen Thesen (und letztlich auch der Zeitung, die Aly’s Thesen veröffentlicht hat) von „Altmeister“ Elmar Altvater:

    http://www.freitag.de/2008/07/08070201.php

    Als Betthupferl zwei Absätze daraus:

    „Den 68ern wird eine Rolle wie die des „Schmürz“ in Boris Vians gleichnamigem Stück zugedacht: Er ist immer schon da, und die Chargen auf der Bühne, sie mögen Aly, Kraushaar oder Bohrer heißen, hauen dem Schmürz saftig eine in die Visage, immer wenn sie ihm begegnen.

    Wäre man nicht gut im Nehmen trainiert, könnte man angesichts der Armseligkeit der Reflexion dessen, was und warum es vor 40 Jahren geschah, und welche Wirkungen bis heute davon ausgehen, in Trübsinn verfallen. Auch weil sich darin der Niedergang kritischer Medien zeigt. Diejenigen, deren Texte zu 1968 über die Jahre hinweg in der Frankfurter Rundschau dokumentiert worden sind, können nur in stiller Wut auf den publizistischen Fauxpas reagieren, wenn die 68er Bewegung mit den Nazi-Verbrechern gleichgesetzt wird, nur weil die sich ebenfalls als „Bewegung“ bezeichneten. Welch eine ungeheuerliche Verharmlosung der Nazis 75 Jahre nach deren „Machtergreifung“, dem Vorspiel der nachfolgenden Massenmorde, und welch eine durch nichts gerechtfertigte Diabolisierung der 68er.“

    Und das Beste: Wenn man den ganzen Text aufmerksam liest, stellt man fest, dass die Argumente von Altvater hier im Blog bereits schärfer und ausführlicher dargelegt wurden – so schlecht ist der user-generated-content doch gar nicht 😉

  92. @ Susanne

    Susanne, meine liebe Stiefnichte,

    ich hatte ja eine Antwort auf deinen Kommentar 128 drüben in Aussicht gestellt, was mir allerdings wegen der Komplexität der angesprochenen Gesichtspunkte nur kursorisch möglich ist. Trotzdem notgedrungen etwas ausführlich.
    Wo du Lücken oder Unstimmigkeiten findest, tritt bitte gerne darüber in einen Dialog mit mir (wozu natürlich auch andere Teilnehmer eingeladen sind, das ist ja hier ein öffentliches und kein Familenforum)!

    Deine Kritik am Umgang Alys mit dem Wort nach identischen, dem Begriff nach aber durchaus unterschiedlichen Äußerungen von Nazis und 68ern ist mehr als berechtigt. Das gilt über deine Beispiele hinaus etwa auch über den Begriff des „Systgems“, mit dem die Nazis die Weimarer Parteien-Republik ansprechen, die Exponenten der 68er, etwa Dutschke, aber die durch den Kapitalismus dominierte Gesellschaft.

    Was die „Scheißliberalen“ betrifft, so sind sie mir als Hass- oder Kritikobjekt der 68er gar nicht in Erinnerung, keinesfalls standen sie aber, im Gegensatz zu den Exponenten auroritärer Strukturen im Zentrum der Angriffe, die in den bundesrepublikanischen Verhältnissen trotz des parlamentarischen Systems ausgemacht und in der unscharfen Begrifflichkeit des „Faschistoiden“ in die Nähe des NS gerückt wurden.
    Das Ideal für demokratische Entscheidungsprozesse wurde eher in den Rätemodellen der Revolutionäre des November 1918 gesucht, die bei den Nazis den schlichten Titel „Novemberverbrecher“ trugen.

    Deren Gegenwendung gegen den „Liberalismus“ ist in der Tat nicht so leicht zu begreifen. Das liegt zum einen daran, dass es sich bei der Nazipropaganda nicht um eine begrifflich und gedanklich konsistente Ideologie oder gar Theorie handelt, sondern um das Aufgreifen von Schlagworten aus ganz heterogenen sozialen und politischen Kontexten in dem Bestreben, in den unterschiedlichsten Schichten und Milieus Anklang zu finden.
    Zum anderen wird der Begriff in der Tradition als positive Identifikation bzw. als negative Etikettierung mit nicht einhelliger Bedeutung belegt. So fragst du sinngemäß, ob die Vätergeneration, das wilhelminische Bürgertum also, denn nicht, statt liberal, in autoritärem und obrigkeitsfixiertem Denken verhaftet gewesen sei.

    Der Liberalismus der klassischen Phase des revolutionären Bürgertums ist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von dir ins Spiel gebrachten „Ich“ der Aufklärung zu sehen. Der Begriff zielt auf das mit Selbstbewusstsein ausgestattete autonome Individuum, welches Subjekt des Handelns und der Erkenntnis ist und sich keineswegs als solitäres Wesen begreift, sondern sich mit seinesgleichen zum Zwecke der Bildung eines Gemeinwesens und eines dieses schützenden Staates assoziieret (vgl. Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“).

    Als die spezifisch bürgerliche Form solcher Assoziation bildet sich der „Verein“ heraus, ein Zusammenschluss von jeweils Gleichgesinnten, der prinzipiell öffentlich und jedermann (!) zugänglich ist. Der Verein bildet denn auch das Grundmuster der bürgerlichen Parteien.

    Nun beginnt sich aber seit der Jahrhundertwende das Bürgertum aufgrund der industriellen und ökonomischen Entwicklungen als relativ homogenes Milieu mit einer geistigen Führerschaft durch das gehobene Bildungsbürgertum aufzulösen. Kennzeichen sind zumal die Existenzbedrohung bestimmter Schichten des im Kleinhandel- und -gewerbe tätigen Bürgertums durch die Konkurrenz der Konzerne und Warenhäuser und im Zusammenhang mit diesen das Heraufkommen einer neuen bürgerlichen Angestelltenschicht.

    Durch diese Entwicklungen kann ein gewichtiger Teil der Jugend nicht mehr davon ausgehen, in die Positionen ihrer Väter zu gelangen und flüchtet sich in eine antimodernistischen Subkultur, die ganz unterschiedliche Blüten treibt: irrational-okkulte Bünde, Reform- und Freikörperkulturbewegung, Anthroposophie, Bildung von Agrarkommunen usw..
    Die Organisationsform dieser „Bewegungen“ ist nicht mehr der Verein mit den oben genannten Charakteristika, sondern der „Bund“, der nicht öffentlich ist, nur Eingeweihten offensteht und mit Initalisationsriten als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft begriffen wird. In einem allgemeinen antisemitischen Klima waren Juden nahezu von allen diesen Bünden ausgeschlossen.

    Sofern überhaupt im politischen Sektor engagiert, rückt die Jugend nach rechts, werden die Aktivitäten in den außerparlamentarischen Raum verlagert und dem partikularen Parteiensystem der alten bürgerlichen Honoratioren wird die Überwindung der Klassenspaltung in einer utopisch-illusionären „Volksgemeinschaft“ gegenübergestellt.

    Eine wesentliche Trägerschicht der klassischen liberalen Ideale des Bürgertums ist das jüdische Bürgertum. Die Juden waren u.a. die Gewinner der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und hatten vom Verlust der entsprechenden Ideale nichts Gutes zu erwarten. Der „Antiliberalismus“ der Bewegung richtete sich nicht zuletzt also auch gegen die Juden und ihre bildungsbürgerlich-liberalen Traditionen.

    Daneben gibt es, wie du besser weißt, seit der Jahrhundertwende eine literarisch-künstlerische Anantgarde, die in den zwanziger Jahren in den verschiedensten kulturellen Bereichen, Malerei, Literatur, Tanz, Architektur, Theater, Kino, eine nie dagewesene Vielfalt und Kreativität entfaltete, jung, bürgerlich, modern, liberal im Sinne von libertinär und weltoffen, aber von Ausnahmen abgesehen, die zur Arbeiterbewegung neigten, Piscator, Brecht u.a., war die Schicht zu apolitisch, heterogen und schwach, um eine tragende Säule der Republik zu sein, „die keiner wollte“ (Bernt Engelmann). sie genoss das Leben und die kurzen Jahre, bevor ihre Kunst mehrheitlich als „entartet“ indiziert wurde, beim Tanz auf dem Vulkan.

    Es bedurfte nur noch der Krise, und die Nazis konnten, nahezu ohne eine einzige originäre programmatische Idee, mit revolutionärem Pathos als Sammelbecken all diesen Strömungen andienen und sich nach den entsprechenden Wahlerfolgen von den ausgedienten bürgerlichen Honoratioren, der Reichswehr und der Industrie die Macht übertragen zu lassen.

  93. @ Heinrich/Susanne

    Zu dem Thema Jugend in der Weimarer Republik und liberales Bürgertum kann ich nur noch einmal auf das Buch von Sebastian Haffner „Geschichte eines Deutschen“ (dtv) verweisen (geschrieben 1939). Sehr lesenswert!

  94. @ Abraham

    Danke für den Buchtipp, den ich beherzigen werde. Ich hänge gleich einen an:

    Die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jhd., die Bildung von entsprechenden Vereinen usw. kann man nachlesen in dem ausgesprochen lehrreichen Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas.

    Bei der Gelegenheit noch eine Antwort auf deinen Kommentar #108 drüben, die auch noch ausstand, weil ich nicht nachgekommen bin.

    „Das Wissen um solche Zusammenhänge vermisse ich bei der „antikolonialistischen“ Solidarität der 68er mit den Palästinensern.“

    Die Solidarität bezog sich und bezieht sich auf ein Volk, dem die elementaren Souveränitätsrechte durch eine Besatzungs- und, was die Siedlungen betrifft, Annexionsmacht verwehrt worden sind und werden. Mit dem Mufti hat das und hatten wir wenig zu tun. Bis weit in die 60er Jahre waren die Palästinenser kein eigenständiges politisches Handlungssubjekt. Das änderte sich erst mit der Fatah- und PLO-Führung durch Arafat.

    Einen anderen Zusammenhang gibt es allerdings mit meiner obigen Beschreibung:

    Die Kinder der bürgerlichen Juden, die aufgrund der beschriebenen Konkurrenzen ihre ökonomische Sicherheit einbüßten, wendeten sich vielfach künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen zu, wo sie an den Universitäten den Nazi-Studenten willkommen-unwillkommene Aggressionsobjekte waren, oder sie engagierten sich, parallel zu den Bünden der Nichtjuden, im Zionismus und Palästina-Projekt.

    Dass du nach meiner leichtfertigen Verallgemeinerung „Seit dem babylonischen Exil gab es meines Wissens keinen selbständigen jüdischen Staat, sondern den Tempel als religiös-kulturelles Zentrum der Juden“. Die Makkabäer ins Spiel bringst, hätte ich mir denken können müssen. Die sind mir ebenso wenig unbekannt wie Flavius-Josephus und Feuchtwangers Trilogie, in deren zweitem Band ich in Rom unter dem Triumpfbogen der Flavier gelesen habe, ebenso wie „Die Jüdin von Toledo“ im Andalus (nicht meine literarische Bildung unterschätzen!).

    Ich hielt die Bedeutung der Makkabäer für begrenzt und episodisch, war nach erneuter Lektüre zum Thema im Zweifel, denke aber mittlerweile, dass Josephus stark übertreibt und dass die 60-jährige Herrschaft sich auf ein kleines Gebiet um Jerusalem beschränkt hat, weitere Gebiete vielleicht verwaltet unter der Oberherrschaft der Seleukiden.

    Das alles ändert aber nichts an meiner Aussage, dass damals Palästina multi-ethnisch besiedelt war, u.a. auch von Arabern, und die heutigen Palästinenser die Nachfahren der damaligen palästinischen, u.a. jüdischen, Bevölkerung sind.

  95. *boff* (zit: Obelix)

    Mit Eurer literarischen und historischen Bildung kann ich nicht mehr mithalten.
    Ich bin ja sehr für Differenzierung, trotzdem die Frage:
    Kann man diese historischen Einzelheiten auf grundsätzliche Fragen zurückführen?

  96. @99. Abraham

    Haffners Buch (posthum erschienen) ist wirklich genial, weil er sehr persönliche Erlebnisse beschreibt. Aber entscheidender als Jugend und liberales Bürgertum für den Verlauf der deutschen Geschichte war die Machtpolitik Bismarck’s und die Großmachtgelüste und Borniertheit des stockkonservativen Bürgertums und der reaktionären Monarchie verbunden mit der politischen Einflussnahme der gerade entstandenen Industriellen-Dynastien – symbolisch wunderbar ausgedrückt durch das Staeck-Plakat, auf dem Hitler in die nach oben zum Gruß erhobene Hand von dieser unseligen Allianz einen Sack Geldscheine gelegt bekommt.

    Dieser Gesamtkomplex wird brillant beschrieben von wiederum Sebastian Haffner in seinem „Von Bismarck zu Hitler“. Ein fundamentaler Rückblick auf deutsche Geschichte und erzkonservatives deutsches Bürgertum – und die daraus entstandenen Folgen, die meiner Meinung nach bis weit in die Adenauer-Zeit wirksam waren und erst durch die 68-er „zerschlagen“ wurden, im positiven Sinne.

    Was erneut die Unsinnigkeit von Aly’s Thesen aufzeigt.

  97. @ BvG #101

    *baff*

    Ja, lieber BvG, sorry, das ganze erscheint zugegeben zeitlich wie örtlich ein wenig auseinandergerissen.

    Der Ausgangspunkt für die Erörterung der historischen Einzelheiten war :
    Abrahams Aussage in Kommentar # 84 im vorausgegangenen themengleichen Thread „Als Kronzeuge ausgerechnet NSDAP-Kiesinger“:

    „Schließlich zeugt die Behauptung, „dass Jerusalem mindestens so dem palestinensischen, wie dem Jüdischen Volk seinen Ursprung und seine (sakrale) Bedeutung verdankt“, von einer absoluten geschichtlichen Unkenntnis, ist aber für eine unter den „68ern“ weit verbreitete (blinde) „Solidarität“ mit den Palästinensern typisch.““,

    und ich versuchte erstens zu zeigen, dass jedenfalls umgekehrt beide „Völker“ ihren Ursprung dort haben und die heutigen Palästinenser dort ein höheres Maß an Kontinuität reklamieren können als die Juden resp. die Israelis, was nach meiner Auffassung (auch nach Abrahams?) völkerrechtlich zwar irrelevant ist, von den Zionisten bei der Unabhängigleitserklärung Israels aber hierfür in Anspruch genommen wurde:

    http://www.neunlindenhof.de/migration/israel/pdf/Gruppe%20I%20Johanna/Proklamation.pdf

    und zweitens dazu zu argumentieren, dass die Solidarität mit den Palästinensern nicht blind war, sondern konsequent und zielgerichtet den Palästinensern im illegitim besetzten Land galt.

    Der noch weiter zurückliegende Ausgangspunkt war, dass BvG in Kommentar #80 Jerusalem ins Spiel gebracht hat („They wanted to build a new Jerusalem“) und 68er darauf reagierte.

    So kann es kommen, dass sich der Kreis beim Ausgangspunkt schließt.

  98. @ Fiasco # 102

    Ich gebe dir in der Sache natürlich Recht und hoffe, dein Einwand ist nicht gegen meinen Kommentar # 98 gerichtet, in dem ich nur den Strang der bürgerlichen Jugendbewegung vor 33 grob nachzeichnen und durch deren Spezifik Alys Vergleich den Boden entziehen wollte.

    Neben den von dir erwähnten wesentlicheren Aspekten gehörte z.B. unter anderem auch noch das leidige Versagen der verfeindeten Arbeiterparteien, das internationale Machtgefüge usw. als Bedingungsfaktoren für Hitlers Aufstieg reflektiert.
    Insofern ist es ein Jammer und ein Versäumnis, dass man sich hier nicht auf den 30. Januar beschränkt und konzentriert hat, spätere, davon unabhängige Diskussion der 68er-Bewegung nicht ausgeschlossen.

    „Und das Beste: Wenn man den ganzen Text aufmerksam liest, stellt man fest, dass die Argumente von Altvater hier im Blog bereits schärfer und ausführlicher dargelegt wurden – so schlecht ist der user-generated-content doch gar nicht ;)“ (Fiasco #97)
    – was nicht zuletzt, wie ich dir eigentlich früher schon sagen wollte, deinen Beiträgen geschuldet ist.

  99. Persönliches o.t.

    Liebe Mitblogger,

    ähnlich wie Susanne neulich will ich mich für einige Tage abmelden.

    Es würde mich freuen, wenn ich nach meiner Rückkunft zumal von Susanne und Abraham ein kurzes Feedback vorfände, welches zeigt, dass meine liebevoll für sie erstellten Antworten zumindest wahrgenommen wurden.
    Ich habe hier zeitweilig das Gefühl, zuviel in einen Wald hineinzurufen, aus dem es nicht wieder zurückschallt. Denke u.a. auch deshalb über eine längere Pause nach.
    Danke insofern für dein Feedback oben, lieber Inga.

    Grüße von Heinrich, der am WE sein 40-jähriges Abi-Jubiläum ausgiebig mit seinen Schulfreunden begehen wird, nach welchem das wilde und verwirrende 68er Studentenleben begann!

  100. @ Heinrich
    Ich suche immer regelmäßig nach Deinen Beiträgen. Bitte lege keine längere Pause ein, aber feiere schön! Ich habe mein 40-jähriges-Abi-Jubiläum letztes Jahr mit großer Freude gefeiert, die ich auch Dir wünsche.

  101. @Heinrich
    Lieber Heinrich,
    ganz herzlichen Dank für deine hochinteressante Antwort, auf die ich schon gespannt gewartet habe. Ich weiß nicht wie es passieren konnte, aber ich habe deinen Kommentar bis jetzt ÜBERSEHEN! Ich bitte um Entschuldigung. Sehr gerührt hat es mich ja, dass du wegen meiner Frage so aufwändig recherchiert hast. Ich habe mich unterdessen -von unserer Diskussion angeregt- in der Lehrerbibliothek in Aufsätze zur Weimarer Republik vertieft und höre derzeit ein Hörbuch über „Die Weltbühne“. Es beinhaltet einen sehr interessanten Beitrag von Tucholsky, in dem er sich mit dem Bürgertum beschäftigt. Also Heinrich, ich muss deinen Text erst mal in Ruhe verarbeiten. Da ich leider derzeit gesundheitlich ziemlich angeschlagen bin, hoffe ich, dass unser Freund Bronski diesen Thread nicht so schnell schließen wird und mir ein bisschen Zeit für eine Antwort lässt.
    Ansonsten kann ich nur Abrahams Beitrag Nr. 107 unterstützen.

    Liebe Grüße
    Susanne

  102. @ Heinrich, BvG, Fiasco
    Bitte entschuldigt, Eure interessanten Kommentare ab # 100 sind mir entgangen, ich will aber noch darauf eingehen. Vor allem die Themen, die Heinrich aufwirft, muss ich Schritt für Schritt abarbeiten.

  103. @ Fiasco # 102/@ Heinrich # 104

    Völlig einverstanden. Der Aufstieg der Nazis hat all die von Euch angesprochenen Ursachen/Aspekte und ist keineswegs nur eine „Jugendbewegung“.

    Fiasco, das Staeck-Plakats (das mir, obwohl ich sein „Werk“ gut kenne, nicht gegenwärtig ist) hat einen „Vorgänger“: John Hartfields Plakat aus den 30er Jahren (?), das Hitler mit einem „Rückrad“ aus Münzen zeigt.

  104. @ Heinrich # 100

    Lieber Heinrich,

    es wird nicht einfach, Diesen Deinen Beitrag „abzuarbeiten“. Noch am einfachsten ist die Geschichte mit dem „jüdischen Staat“ der Spätantike. Natürlich waren die jüdischen Königreiche, das Nord- und Südreich (Judea/Israel), keine suveränen Staaten im heutigen Sinne, sondern je nach Machtkonstelation Vasalen Ägyptens oder Asyriens (Mezopotamiens), später von Rom abhängig. Die von den Makkabäern erkämpfte Selbständigkeit war von kurzer Dauer und daher meinetwegen „episodisch“, wie Du es nennst. Eine jüdische „nationale“ Existenz ist aber verbürgt und drückt sich nicht zuletzt in den Aufständen gegen die Römer aus.

    Ich bin kein Völkerkundler und weiß deshalb nicht, ab wann man von „Arabern“ sprechen kann. In der helenistischen Zeit taucht dieser Begriff (noch) nicht auf. Ob Araber Nachkommen der ursprünglicher Bewohner „Palästinas“ (so nannten die Römer die Provinz Judea nach dem von ihnen gewonnenen „jüdischen Krieg“) oder später zugewandert sind, weiß ich ebenfalls nicht. In der frühgeschichtlichen Zeit Kanaans hat es wohl dort ettliche „Ethnien“ (Moabiter, Philister usw.) und auch Zuwanderungswellen gegeben (auch die Landnahme der Hebräer ist wohl in mehreren Zuwanderungswellen geschehen und vermutlich weit unblutiger verlaufen als es die Bibel schildert). Und auch in der antiken Zeit hat es eine erhebliche „Mobilität“ von „Völkern“ gegeben. Dies spielt aber für die heutige politische Lage nur eine untergeordnete Rolle. Im 19. Jahrhundert lebten in der osmanischen Provinz Palästina jedenfalls schon seit Jahrhunderten Araber.

    Worauf sich die Unabhängigkeitserklärung Israels aber meiner Meinung nach zu Recht beruft (auch wenn dies im Sinne des Völkerrechts tatsächlich nicht relevant sein mag), ist der ungebrochene Bezug des in der Verstreuung lebenden jüdischen Volkes zu „Zion“ (also dem Land Israel) und zu Jerusalem. Dieser ist nicht nur in der Liturgie und in den jüdischen Festen verankert, sondern führte immer wieder zur (natürlich begrenzten) Rückwanderung und damit einer „Auffrischung“ der jüdischen Gemeinden, die es in Zfad, Hebron und Jerusalem (nur durch zeitweilige Vertreibungen unterbrochen) gab.

  105. @ BvG, Abraham, Susanne:

    Danke für das positive Echo aus dem Walde! Tatsächlich ist wahrscheinlich eine zuträglichere Dosierung von Beiträgen, um die ich mich also lieber bemühen werde, der gesündere Umgang mit der Blogsucht (gibt es sowas?) als ein quartalsmäßiger Wechsel von Abstinenz und Abusus.

    Der kleine Disput um das Plakat löst sich jedenfalls so auf:

    Fiasko unterläuft ein Verschreiber bei der Autorschaft: Das von ihm beschriebene Plakat ist ebenfalls von John Heartfield (s. u. Nr. 1o7, 108!)

    http://www.khm.de/audiolectures/audiolectures02/01_bildmaterial/VL11_Teil_A_22_6_5_1-58/bildlegende.html

  106. @ Heinrich, immer noch zu # 100

    „Die Kinder der bürgerlichen Juden, die aufgrund der beschriebenen Konkurrenzen ihre ökonomische Sicherheit einbüßten, wendeten sich vielfach künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen zu, wo sie an den Universitäten den Nazi-Studenten willkommen-unwillkommene Aggressionsobjekte waren, oder sie engagierten sich, parallel zu den Bünden der Nichtjuden, im Zionismus und Palästina-Projekt.“

    Lieber Heinrich, das ist etwas unter Deinem Niveau der historischen Genauigkeit und Differenzierheit. Der Zionismus hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, da hat es noch keine Nazis gegeben. Darauf (und auf die „bürgerlichen Juden“ und ihre Kinder kann ich heute Abend aber nicht mehr eingehen, ich hole es aber nach. Ich werde dann auch versuchen, meine Kritik an der undifferenzierten „Solidarität“ der „68er“ zu den Palästinensern zu konkretisieren und zu begründen, aber nicht alles auf einmal.

  107. @bronski, heinrich, susanne, abraham, theel, alle

    Mittlerweile haben der Blog und einzelne Threads eine Dichte erreicht, die es rechtfertigen würde, daß die FR das alles mal zusammenfasst, kommentiert und dokumentiert.

    Ich sehe einige Querverbindungen und einen Tiefgang, der schon eine Dokumentation in der FR hergeben würde.

    Überschrift: „Printessenz“. (?)

  108. @ Susanne

    Es tut mir leid, dass deine Gesundheit angeschlagen ist, und ich wünsche dir gute Besserung. Jedoch ist wohl noch nicht alle Hoffnung verloren, solange dir noch nicht der feine Sinn für Ironie vergangen ist: „Schlagseite“ = „untergehendes Schiff“ (Was ist eigentlich die weibliche Form zu „der Filou“?).

    Die „Weltbühne“ und Kurt Tucholsky, im anderen Thread schon angesprochen, gehören natürlich in erster Linie zu meinen „u.a.“ zu Brecht und Piscator.

    Hier ein Text von Tucholsky, vielleicht ja der aus deinem Hörbuch, von z.T. erschreckender Aktualität.

    http://www.tucholsky-gesellschaft.de/index.htm?KT/Texte/wirnegativen.htm

    Tucholsky war ein Prophet. Ein Prophet ist ja nicht, wie landläufig angenommen, jemand, der einfach hellseherisch die Zukunft voraussieht, sondern jemand, der die Menschen zur Umkehr mahnt, damit die böse Zukunft, die sie durch ihr Handeln heraufzubeschwören drohen, nicht eintrete. Und wie anders soll man es nennen, wenn Tucholsky 1919 (!) schreibt:
    „Und nach abermals zwanzig Jahren
    Kommen neue Kanonen gefahren…“?

    http://www.textlog.de/tucholsky-krieg-dem-kriege.html

  109. @ Abraham # 113

    „Nicht alles auf einmal!“ ist hier wohl eine passende Devise, und wahrscheinlich gebietet sich auch eine Beschränkung aufs Wesentliche.

    „… unter Deinem Niveau der historischen Genauigkeit und Differenzierheit. Der Zionismus hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, da hat es noch keine Nazis gegeben.“
    – Renne bitte keine offenen Türen bei mir ein! Die Entstehung und Entwicklung des Zionismus ist mir nicht unbekannt, das könntest du dir, meine ich, denken.
    Ich schreibe: „[Sie] wendeten sich vielfach künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen zu, wo sie an den Universitäten den Nazi-Studenten willkommen-unwillkommene Aggressionsobjekte waren, oder sie engagierten sich, parallel zu den Bünden der Nichtjuden, im Zionismus und Palästina-Projekt.“

    1. Die „Machtergreifung“ fand an den deutschen Hochschulen bereits 1931 statt, indem der NS-Studentenbund die Führung der DSt (Deutsche Studentenschaft) gegen den Widerstand anderer Verbände übernahm und diese innerhalb eines Jahres gleichschaltete.

    Nach dem „Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurden zwischen zwanzig und dreißig Prozent der Professoren und Dozenten entlassen, die allermeisten wegen des „Arierparagraphen“. Man geht infolgedessen von einem, im Verhältnis zu den vorangegangenen Generationen deutlich angestiegenen, Anteil von bis zu zwanzig Prozent jüdischen Professoren und Dozenten aus, wogegen der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung etwa bei fünf Prozent lag. Den NS-Studenten war dies ein dorn im Auge, und sie drangen in die durch die Entlassungen frei werdenden Stellen.

    2. Unter dem Einfluss von antisemitischen Angriffen schon vor und gesetzlichen Einschränkungen während der NS.Herrschaft: Zulassungsbeschränkungen, Promotionsverbot, Mensaverbot etc. gab es auch immer weniger jüdische Studenten. So um 1935 erklärten sich die Hochschulen für „judenrein“.

    Ohne hier einen kausalen Zusammenhang benennen zu wollen: In dieser Phase nahm die Akzeptanz des Zionismus, der vorher unter den deutschen Juden marginal war, natürlich nicht seine Erfindung, und das Engagement im Palästina-Projekt gerade unter jungen Juden deutlich zu, wobei der Riss zwischen Liberalen und Zionisten häufig quer durch die Familien ging. So jedenfalls mein bisheriges Bild, das ich aktuell bestätigt finde z.B. bei: Hans Mommsen, Von Auschwitz nach Weimar.

    Meine obige Darstellung finde ich wieder etwa in folgendem Zitat: „Nichtsdestoweniger blieb der Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg in Europa die Bewegung einer Minderheit innerhalb einer Minderheit. Jedoch gelang es ihm, eine Reihe begabter Persönlichkeiten anzuziehen, vor allem Intellektuelle wie etwa den Philosophen Martin Buber (1878-1965), für den der Zionismus eine jüdische Variante der neoromantischen Rebellion gegen das bourgeoise Leben bedeutete.“ (Nicholas de Lange, Illustrierte Gesachichte des Judentums).

  110. @ Heinrich
    Wie könnte ich an Deiner Bildung zweifeln! Auch dass Du Feuchtwanger/Flavius kennst, war anzunehmen. Trotzdem, wenn wir keine Privatunterhaltung führen wollen (und erstaunlicherweise interessieren sich offensichtlich auch andere für unsere Diskussionen), schaden ausführlichere Verweise auf uns Bekannte nicht. Auf Deine Antwort (# 117) komme ich hoffentlich heute Abend zurück.

  111. @ Abraham # 111

    Nun gut! An deiner Darstellung habe ich im Prinzip nichts auszusetzen, sie verträgt aber, da du an anderer Stelle meine historische Genauigkeit anmahnst, einige präzisierende Korrekturen.

    In der Geschichte kann man nur Klarheit erreichen, wenn man sie unter drei durchaus unterscheidbaren, jeweils nur bedingt zusammenhängenden Aspekten betrachtet: dem religiös-kulturellen, dem ethnischen und dem politischen.
    Meine Sicht darauf ist zusammengefasst folgende:

    Die jüdische Religion basiert auf dem älteren Henotheistischen JHWE-Kult der israelitischen Stämme, die wohl zeitweilig zu staatlicher Selbständigkeit gelangten, indem sie zeitweilige Schwächen der ägyptischen und mesopotamischen Großreiche ausnutzen konnten.

    Können wir uns aber darauf verständigen, dass man in religiöser Hinsicht vom Judentum im strengen Sinne erst seit dem 2. Tempel sprechen kann, mit den Merkmalen: strenger Monotheismus, Kodifizierung und Redaktion der heiligen Schriften samt Festlegung der religiösen Gebote und rituellen Vorschriften? Seit dieser Zeit gibt es jedenfalls eine religiöse jüdische Identität, wenn auch zeitweise umkämpft, die am Zugang zum Tempel orientiert ist.

    Diese religiöse überschneidet sich jeweils nur bedingt mit einer ethnischen und staatlich-politischen Identität: Schon zur Zeit der Reformen von Esra und Nehemia im 5. Jhd. v.u.Z. gibt es Judäer und erst recht Israeliten (Samaritaner), die im obigen Sinne keine vollgültigen Juden waren, zur Zeit der Makkabäer/Hasmoniden (die nicht unter der Vorherrschaft der Ägypter, Babylonier oder Assyrer stehen, sondern der der syrischen Seleukiden) gibt es umgekehrt massenhaft (vielleicht zwangs-) missionierte Juden, die nicht-judäischen ethnischen Bevölkerungsgruppen Palästinas entstammen. M.a.W.: Nicht nur das Land Palästina, sondern auch das Judentum selber ist von vornherein multi-ethnisch und wird es erst recht in der Diaspora. Eine jüdische Identität gibt es aber, wie gesagt, seither zweifellos, ob man von da an bis zum 19. Jhd. aber tatsächlich von einer „nationalen“ Identität sprechen kann, daran würde ich zumindest Zweifel anmelden. Das ist aber zugegeben nur die „objektive“ Sicht von außen. Die subjektive Seite, die alle Identität ja auch hat, muss ich tunlichst den Juden überlassen.

    Araber sind ganz ursprünglich die nomadischen und kriegerischen Kamelreiter von der arabischen Halbinsel, die schon im 9. Jhd. v.u.Z. in assyrischen Inschriften namentlich bezeugt sind. Mythisch erscheinen sie als Nachfahren des Abraham-Sohnes Ismael, und biblisch in Jeremia Kapitel 25, Vers 24: „alle Könige Arabiens und die der Mischvölker, die in der Wüste wohnen“.
    In Samaria gab es jedenfalls eine von den Seleukiden geduldete herrschende arabische Schicht, und die Truppen Mohammeds und der Kalifen haben die östlichen Mittelmeer-Anrainer religiös später islamisiert und kulturell arabisiert.

    Dein letzter Absatz ist schön formuliert und findet meine volle Zustimmung, da hier den Arabern nicht ein entsprechender Bezug zu Palästina bestritten wird. Keinesfalls würde ich den Juden einen solchen historischen Bezug umgekehrt streitig machen wollen.

  112. „Makkabäer/Hasmonäer“ muss es richtig heißen. Da hat sich beim Schreiben wohl schon die Endung der Seleukiden eingeschlichen.

  113. Lieber Heinrich,

    an Spekulationen über die Entstehung der israelitischen/jüdischen Religion (wie sei u.a. Asmann betreibt), will ich mich nicht beteiligen, weil (a) es dazu zu wenig Quellen gibt, die objektive Informationen vermitteln können, (b) ich erst in die Bücher eintauchen müsste, um etwas vernünftiges dazu schreiben zu können, (c) für unsere (politische) Diskussion an sich irrelevant ist.

    Eine jüdische Religion (und auch gewisse Staatlichkeit) hat es höchstwahrscheinlich schon zu Zeiten des ersten Tempels gegeben, sicherlich zu Zeiten des zweiten (und beschränkt sich nicht auf die recht späten Hasmonäer (so heißt das Geschlecht der Makabäer, wie Du richtig schreibst). Das heutige Judentum ist religiös erst in der Zeit der römischen Eroberung Judeas entstanden (das habe ich an anderer Stelle versucht zu beschreiben).

    Auch wenn die „ethnische“ Situation in Judea wohl komplizierter war (und wir vieles nicht wissen, denn die heutige Archeologie ist weit vorsichtiger in der Interpretation der Funde als noch vor wenigen Jahrzehnten), als Du sie hier beschreiben kannst, sind wir uns doch in dem Wesentlichen einig: sowohl die heutigen Palästinenser als auch die Juden als „Volk“ (was keine ethnische und nur bedingt eine „nationale“ Kategorie, aber mehr als eine Religion bedeutet) haben ihre historischen Wurzeln in dem heutigen Istrael/Palästina. Damit können wir dieses Kapitel abschließen und in die für unsere Diskussion relevanten 19. und 20. Jahrhundert springen (vielleicht mit einigen Rückgriffen auf das 18. Jahrhundert). Auch damit haben wir noch genug zum abarbeiten.

  114. Lieber Heinrich,
    sicherlich stimmst Du mir auch zu, dass sich Juden schon seit dem Beginn der durch die Französische Revolution eingeleiteten Emanzipation in Westeuropa „vielfach künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen“ zuwenden, also nicht erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihr hoher Anteil unter den Studenten hat sicher mit der traditionell hohen Wertschätzung der Bildung im Judentum zu tun (was interessanterweise auch für Frauen gilt, viele der ersten Studentinnen an deutschen Universitäten kamen aus jüdischen Familien). Es hat aber auch mit der ökonomischen Situation zu tun: Die Juden, denen nun theoretisch alle Berufe offen stehen (obwohl es bis zur Weimarer Republik Einschränkungen im Militär, in der Verwaltung und an Hochschulen gab), nutzen die Freiräume in den neuen, noch nicht „besetzten“ Wirtschaftsbereichen, wie es die freien Berufe, „moderne“ Industrien (wie Textil; hingegen kaum in der Schwerindustrie – die fast einzige Ausnahme ist die zu „Kohlebaronen“ aufgestiegene Familie Petschek in Böhmen), handel, Dienstleistungen und Wissenschaft.

    Mit der „Verbürgerlichung“ der Juden einher geht eine „Konfesionalisierung“ – das Judentum verliert seinen „Nationalcharakter“ (bitte verzeihe die vereinfachenden Kategoriesierungen, aber über diese Entwicklung sind bekanntlich ganze Bibliotheken verfasst worden). Man wird „deutscher“ (oder französischer) Jude, sofern man sich überhaupt nicht vom Judentum verabschiedet. So ist auch das Engagement der Juden für die demokratische Revolution von 1848 zu verstehen.

    Der Knick in dieser Entwicklung setzt allerdings schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, denn u.a. die Romantik öffnet die Schleusen für einen neuen Antisemitismus. Die Folgen sind Stöcker und Treitschke – und in Frankreich die Dreyfus-Affaire.

    Die jüdischen Raektionen gehen in zwei Richtungen: Der politische Zionismus (der eine Minderheit in Deutschland bleibt, aber durchaus starken kulturellen Einfluss hatte) einerseits und die Verteidigung der Position als „deutscher Bürger jüdischen Glaubens“ anderseits. Doch man konnte auch beides verteten: Rabbiner Leo Baeck war sowohl Zionist als auch führend tätig im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (den Tucholsky als „deutsche Staatsjuden bürgerlichen Glaubens“ verspottete, wobei die von ihm geschaffene Figur des „Herrn Wendriner“ an eine antisemitische Karrikatur grenzt).

    Die von Dir erwähnten Palästina-Projekte der späteren 30er Jahre haben (abgesehen von linkszionistischen Jugendgruppen) nur bedingt mit Zionismus etwas zu tun, sondern sind – vor allem auf die Jugend konzentrierten – Rettungsversuche vor der beginnenden Nazi-Verfolgung. So fragte man Zuwanderer in Palästina: „Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?“

    Es reicht aber nicht aus, den Zionismus aus „deutscher“ Sicht zu betrachten und die gänzlich unterschiedliche Entwicklung in Osteuropa zu vernachlässigen. Dazu später, bevor ich auf 68er und die Solidarität mit den Palästinensern zurück komme.

  115. @ Abraham und heinrich

    Nachdem jetzt schon mehrfach – ohne aber direkt gefragt worden zu sein – von Ihnen Abraham und heinrich auf meine Person referiert worden ist, im Hinblick auf die Problematik, inwieweit es eine fälschliche Solidarität der Nachkriegslinken, insbesondere der 68er-Bewegung und ihrer Nachfolger mit den Palästinensern, dort insbesondere wieder mit Al Fatah oder Hamas gegen „das jüdische Volk“, mindestens aber gegen den Staat Israel gegeben hat, möchte ich sie beide herzlich bitten, diese Disskussion ausdrücklich nicht an meinen Beiträgen hier im Blog, oder gar meiner Person aufhängen zu wollen.

    Als ich meine kurze Bemerkung von den Ursprüngen sowohl des arabischen, als auch des jüdischen Volkes im „Raum Palestina“ machte habe ich nicht mehr im Hinterkopf gehabt, als sie beide hier inzwischen in diesem Thread hier in extenso ausgebreitet haben. Es ging mir, es geht um Gerechtigkeit für beide Völker, dass man nicht ein Volk gegen das andere ausspielen darf.

    Ich bekenne, dass ich die Grenz-, Verteidigungs- und Atomwaffenpolitik des Staates Israel, die unmenschliche Mauer und die Liquidierung plalestinensischer Politiker z.B. ablehne. Dies ist bei mir aber in keiner Weise irgendeinem Antisemitismus noch blinder „Araberliebe“ geschuldet und schließt Vorstellungen für eine vernünftige Lösung des Nahostkonfliktes bei mir nicht aus. Mir sind die starken demokratischen Kräfte in Israel durchaus bewußt, wie ich die extremistischen Kräfte bei den Palestinensern nicht leugne.

    Sollte sich ihre Diskussion über das eingangs genannte, historisch selbstverständlich bestehende politische Problem für mich in irgendeiner Weise als nachvollziebar und interessant erweisen, werde ich mich gerne daran beteiligen.

    Solange grüße ich sie

    Uwe Theel aka 68er

  116. Schreibfehler:

    Entschuldiigen sie die mehrfache Schreibweise „Palestina“, es muss natürlich Palästina heißen.

  117. @ Abraham

    Selbstverständlich stimme ich dir zu, und zwar in allen Punkten deines Beitrages, den ich durchweg als Ergänzung und Erläuterung, nirgends aber als Widerspruch zu meinen Aussagen sehe.

    Um einem Missverständnis zu begegnen: Die bürgerliche antimodernistische Jugendbewegung, die ich ja nur grob skizzieren konnte, setzt samt den ökonomischen Hintergründen keineswegs erst in den dreißiger Jahren ein, sondern um die, zum Teil schon vor der Jahrhundertwende. Im Gegenteil, in den dreißiger Jahren ist sie längst gleichgeschaltet, z.T. nicht ganz ohne Widerstand, wie man auch hinzufügen sollte.

    In diesem Zusammenhang habe ich auch keineswegs eine umfassende Darstellung des Zionismus angestrebt, sondern mich auch hier auf die Entwicklung in Deutschland bezogen. Wenn ich dir aber eine Steilvorlage für die Darstellung des Ostjudentums gegeben habe, sollte mir das recht sein.

    Was ich zu deiner Sicht auf die Palästina-Solidarität der 68er ggf. zu sagen habe, werden wir sehen. Da vermute ich eher kontroverse Standpunkte.

  118. @ Uwe Theel

    Sie haben möglicherweise den Anlass für die abschweifende Diskussion geliefert, ich habe mich aber bei meinen Beiträgen nicht auf Sie bezogen. Wenn Sie die Debatte zwischen Heinrich und mir langweilt, dann überspringen Sie sie einfach.

    Zu der Frage der Solidarität der 68er mit Palästinensern will ich noch kommen, dann können Sie mir ja widersprechen (aber das wird auch Heinrich sicherlich tun).

    Ich halte es aber für sinnvoll, auch den historischen Hintergrund auszuleuchten, um gemeinsame Ausgangsbasis für die sicher kontroverse weitere Diskussion zu haben.

  119. @ Uwe

    Erinnerung:
    In deinem Beitrag # 81 im Vorgänger-Thread bezeugst du BvG in deiner ausgesucht höflichen Art „Unwissenheit oder Dummheit“, da er übersehe, „dass Jerusalem mindestens so dem palestinensischen, wie dem Jüdischen Volk seinen Ursprung und seine (sakrale) Bedeutung verdankt.“, was tatsächlich, wie Abraham völlig zu Recht bemängelt, von „einer absoluten geschichtlichen Unkenntnis“ zeugt.

    Die Fortsetzung seines Kommentars: „…ist aber für eine unter den „68ern“ weit verbreitete (blinde) „Solidarität“ mit den Palästinensern typisch.“ hat mich auf den Plan gerufen, um ihm zu bedeuten bzw. zu zeigen, dass es auch 68er gibt, die zwar Solidarität mit den Palästinensern zeigen, aber nicht unbedingt blinde, und die allenfalls mit relativer geschichtlicher Unkenntnis geschlagen sind. Von da ab hat unsere Diskussion vollkommen von dem Anlass abgehoben.

    Gegen einen Anitisemitismus-Vorwurf brauchst du dich jedenfalls nicht zu verteidigen, den dir hier wirklich niemand gemacht hat und, jedenfalls in Bezug auf deine bisherigen Äußerungen, auch nicht ohne meinen Widerspruch machen würde.

  120. Kleine Antwort an beide Vorredner:

    a) Die bsiherige Debatte mag nach Blog-Regel #4 abschweifend sein, eine Tatsache, die mich in keiner Weise stört, je störte.

    b) Ich akzeptiere, dass meine ursprüngliche Bemerkung äußerer Anlaß aber nicht inhaltlicher Grund für das noch zu behandelnde Unterthema gewesen ist.

    c) An Diskussionen mit Ihnen Abraham und heinrich, nehme ich immer gerne Teil, auch wenn ich – das ist ernst gemeint – mit meiner Bildung im Einzelfall vielleicht nicht gannz an die Ihre heranreiche, was ich durchaus für möglich halte. Zum Beispiel würde ich lieber gerne erklärt wissen, lernen, gerade nach den vielen Ausführungen im Thread bisher, die mir das Gegenteil zu belegen scheinen, warum es Unsinn sei, wenn ich sagte, dass Jerusalems sakrale Bedeutung aus der Geschichte heraus für beide Völker (Juden und Palästinenser) und – in wieder anderem Bezug – für das Christentum gleichermaßen behauptet werden könne, als mit dem Wort „Unsinn“ nur abgewiesen zu werden.

    Ich hoffe auf gedankenvolle Wortwechsel.

  121. @ Heinrich

    Auf die osteuropäischen Quellen des Zionismus wollte ich nur kurz eingehen, weil sie auch die Entstehungsgeschichte Israels stark beeinflussen. Im Osten (vor allem in Russland einschließlich Ukraine) ist die „Verbürgerlichung“ des Judentums weitgehend ausgeblieben, da es dort auch keine bürgerliche Emanzipazion gab. Statt dessen entwickelt sich im jüdischen Proletariat der (jiddischsprachige) „Bund“ zu einer starken sozialdemokratischen Organisation (die später auf der Seite der Mehrheit gegen Lenins Bolschewiken stand). Eine Alternative dazu sind die (ebenfalls sozialistisch orientierten) Zionisten, aus deren Reihen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten jüdischen Einwanderer nach Palästina und die Gründer der Kibbuz-Bewegung kommen. Schon davor hat sich vor allem im Osten der Kulturzionismus (mit der „Wiederbelebung“ des Hebräischen) und auch ein religiöser Zionismus entwickelt.

    Die Mehrzahl der Führungsfiguren der zionistischen Bewegung und der späteren Staatsführung Israels kam aus Russland und war sozialistisch orientiert. Das ist wohl einer der Gründe dafür, dass Sowjetrussland die Pläne zur Gründung Israels unterstützte und als ein Teil der antikolonialen Bewegung gegen den britischen Imperialismus und die von diesem geschaffenen reaktionären arabischen Monarchien betrachtete. Ähnlich war auch zuerst die westeuropäische Linke eingestellt.

    Eine Solidarisierung mit den Palästinensern (oder korrekter gesagt, mit den palästinensischen Arabern, die sich erst allmählich als Palästinenser verstehen) findet bis 1967 kaum statt, obwohl diese als Folge der Teilung des Landes und der Flucht und Vertreibung im 1948er Krieg weitgehend in Flüchtlingslagern eingepfärcht sind (allerdings unter arabischen Kontrolle). Während aus der ersten, von den Briten vorgenommenen Teilung Palästinas das haschemitische Königreich Jordanien entstanden ist, wird den Palästinensern nach 1948 von den arabischen Staaten ein eigener Staat verweigert, ohne sie zu vollwertigen Bürgern von Jordanien und Ägypten zu machen. Die „besetzten Gebiete“ sind also schon damals entstanden. Bezeichnenderweise haben viele Palästinenser die von Israel ursprünglich gar nicht angestrebte Besatzung nach dem 67er Krieg in gewisser Weise als „Befreiung“ erlebt, die ihnen zuerst im erheblichen Masse Bewegungsfreiheit sowie soziale und wirtschaftliche Entwicklung gebracht hat. So sind fast alle palästinensischen Universitäten erst unter der israelischen Besatzung gegründet worden.

    Ein „Besatzungsregime“ und umfassende Siedleraktivitäten gab es 1968 noch gar nicht (und auch 1970 noch kaum, als ich das erste mal Israel einschließlich der palästinensischer Gebiete besucht habe, was damals völlig problemlos war). Daher ist mir die Solidarität der deutschen Linken mit der PLO als „Befreiungsbewegung“ (trotz ihrer zunehmenden Terroraktivitäten) nicht ganz nachvollziehbar. Kann es daran liegen, dass Springer und Bild den „Blitzkrieg“ der Israelis so gefeiert haben? Spielte die Unterstützung Israels durch die (wegen des Vietnamkrieges verhassten) USA eine Rolle (nach der Regel „Der Freund meines Feindes ist mein Feind“)?

    In der Tschechoslowakei war die Wahrnehmung ganz anders: Israel war der David, der sich erfolgreich gegen den Goliath der von den Sowjets hoch aufgerüsteten arabischen Übermacht erfolgreich gewährt hat, die Insel der Demokratie im Meer des Despotismus. Wenn dadurch historische Reminiszenzen geweckt wurden, dann an die Bedrohung der CSR durch Hitler in 1938. So hat es z.B. Milan Kundera in einer Rede vor dem Schriftstellerkongress im Herbst 1967 formuliert, die (neben der Verlesung eines Briefes von Solschenyzin) zu Repressionen der KP-Führung gegen den Schriftstellerverband führte. Dies war einer der Auslöser für die darauf folgende Auseinandersetzung zwischen Konservativen und den Reformkräften in der KP, die im Januar 1968 zur Wahl von Dubcek führte und den Prager Frühling einleitete. Die Ironie der Geschichte: Die KP Israels (die einzige legale KP im Nahen Osten) war neben der westdeutschen DKP die einzige „westliche“ KP, die die Niedeschlagung des Prager Frühlings als „Sieg über die Kontrarevolution“ gebilligt hat.

    Eine differenzierte Kritik an der zunehmenden Verstrickung Israels in eine Besatzungspolitik, bei der aber auch die objektive Bedrohungslage durch seine Nachbarstaaten und die demokratische Verfassung des Staates gewürdigt worden wäre, habe ich nur selten bei meinen zahlreichen an der Uni München seit 1969 geführten Diskussionen erlebt.

    Heinrich, Uwe Theel, sind meine Erinnerungen so falsch?

  122. Lieber Uwe,

    du hast vollkommen Recht, dass die bloße Qualifizierung als „Unsinn“ keine gemäße Art der Reaktion auf einen Diskussionspartner ist. Es sollte eine ironische Replik auf deine Qualifizierung „Unwissenheit und Dummheit“ sein.

    Über deine Bildung brauchst du dich, glaube ich, nicht zu beschweren. Wir haben halt alle unterschiedliche Schwerpunkte in Kenntnissen und Interessen.

    Ganz kurz aber, ich denke, das war schon thematisiert: Nicht die sakrale Bedeutung Jerusalems für die drei Religionen war Anlass für die historische Richtigstellung, sondern die Aussage, Jerusalem verdanke seinen Ursprung den Juden und Palästinensern.

    Der historische Ursprung Jerusalems liegt, soviel ich weiß, im Dunkeln, nach der Bibel eroberte König David die Stadt von den Jebusitern und machte sie zu seiner Hauptstadt, die zwischen den Siedlungsgebieten der israelitischen Südstämme und Nordstämme lag, die er so kurzzeitig zu einem Reich vereinigte. Nach dem Tode seines Sohnes Salomo, der einen Tempel in der Stadt errichtete, zerfiel das Reich aber wieder in zwei Teile, das Südreich Juda und das Nordreich Israel.

    Hoffentlich sieht Abraham das nicht anders, sonst muss uns vielleicht doch noch jemand drittes Einhalt gebieten. Ich hatte sowieso schon ein schlechtes Gewissen wegen „Abschweifung“. aber solange es keinen Kläger gab…

    Danke jedenfalls allen, die die Diskussion hier geduldig ertragen oder vielleicht doch die eine oder andere Anregung daraus gewonnen haben.

    Grüße und ebenfalls auf gedankenvollen Wortwechsel

    Heinrich

  123. @ Uwe Theel
    Ich denke, ich habe schon früher dargelegt, warum es falsch ist zu behaupten, Jerusalem würde seinen Ursprung und sakrale Bedeutung (auch) dem palästinensischen Volk „verdanken“. Dies ändert nichts daran, dass die Stadt heute für die Muslime eine religiöse und für die Palästinenser eine nationale Bedeutung hat.

    Mir liegt es fern, Sie (oder generell die 68er) des Antisemitismus zu beschuldigen.

    Die kritische Rückschau auf 68 ist doch das Thema dieses Threads, so dass unsere Diskussion (trotz Abschweifungen) durchaus hierher gehört.

  124. @ Heinrich
    Nein, wir brauchen die Jerusalem-Debatte nicht nochmals widerholen, ich stimme Deiner Zusammenfassung fast vollständig zu.

  125. @Heinrich

    Ich finde nicht, daß dies eine Abschweifung war.
    Immerhin war ein wesentliches Thema der Nachkriegsgeneration, als Gegensatz zu der ideologischen Betrachtung die historische, verstehende und persönlich respektvolle Betrachtung zu suchen, auch wenn sie mühsam ist und Geduld erfordert.

    Das unterscheidet die „6Xer“ doch sehr wesentlich von den „33ern“.
    Dieser Unterschied ist ein gewichtiges Argument gegen Aly’s Thesen.

  126. Lieber Heinrich, geehrter abraham,

    ich habe mich wirklich mißverständlich ausgedrückt, aber was ich bestimmt nicht ausdrücken wollte, war der Gedanke „Jerusalem würde seinen Ursprung und sakrale Bedeutung (auch) dem palästinensischen Volk „verdanken“.“ Das in der Tat wäre Unsinn.

    Mein zentraler Gedanke war, dass Jerusalem für alle drei Religionen eine fundamentale sakrale Bedeutung hat, inzwischen keine mehr die Stadt (auch nur als Symbol) für sich alleine beanspruchen kann. Wenn heute in der Region mindestens zwei dieser Religionen oder Völker in einer schlimmem Konfrontation stehen, dann sollte die Stadt m.M. nach das Symbol für Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit sein und nicht der Punkt an dem sich das sie Unterscheidende allein zur bestimmenden, alles auseiandersprengenden Kraft macht, noch dazu, wenn eine je dritte und vierte Kraft/Macht versucht das Ganze hegemonial machtpolitisch für sich zu instrumentalisieren.

    Ich hätte den Satz vielleicht besser so formulieren sollen

    „Den Vergleich so zu ziehen … übersieht …, dass Jerusalem als Ursprung und in seiner (sakralen) Bedeutung dem palästinensischen Volk mindestens so viel bedeutet, wie dem jüdischen.“

    Irgendwie scheint mir, dass mir da noch ein zweiter Gedanke gleichzeitig durch den Kopf gegangen war, dass nämlich damit auch die Menschen der Stadt etwas verdanken, weil sie sich dort nicht nur geistig, sondern auch sinnlich verorten, dort leben können. Diese gegenseitigen Verflechtungen auf mehreren Ebenen sind mir dann wohl im Blog verunglückt. Dazu kam noch, dass ich die mir in dem Cockburn-Zitat versteckte antisemitische Interpretation zu widerlegen versuchte. – ich entschuldige mich für das verursachte Mißverständnis.

    Und jetzt laß uns weiter abschweifen, möglichst ohne Mißverständnisse.

  127. @Theel

    Das Cockburn -Zitat war der Auslöser, wir sollten unser Verständnis dazu besprechen.

    Im Kern hat Cockburn(meine ich) das Streben des Menschen thematisiert, eine „Heimstatt Gottes“ zu schaffen, jedoch das Scheitern positiv relativiert, indem er über das Scheitern lachte. Ich finde, das fördert eine Toleranz gegenüber dem Irrtum zutage, die wiederum das Streben toleriert und fördert.
    Sinngemäß halte ich dies für eine fröhliche Verteidigung der Religionsfreiheit.

  128. @ 136. BvG

    Ich will es nicht ausufern lassen, außerdemm ruft meine Schlafstatt, morgen früh tut dies dann die Arbeit.

    Ohne Ernsthaftigkeit geht es hier m.E. nach nicht.

    Sie zitierten Cockburn mit den drei Versen:

    “ They wanted to build a new Jerusalem
    and ended up with New York…
    hahaha, hahaha hahaha“

    Der Themenzusammenhang des Blogs war Verharmlosung des Faschismus, Revisonismus der Nazigeschichte.

    Wenn man weiss, dass für die Nazis Jerusalem, die „verruchte Heimstadt Zions“ war, die Juden als an allem WI-Nachkriegselend schuldige Herren des „internationalen Finanzjudentums“ diffamiert waren, dessen tatsächliche Hauptstadt in New York verortet wurde, dann ist das Zitat – so aus seinem eigenen Zusammenhang, dem Liedtext gerissen – im Blogzusammenhang ziemlich eindeutig und im von mir intendierten Sinne zu kritisieren.

    Liest man den ganzen Songtext, den Sie aber zunächst nicht zitierten, dann ergibt sich ein anderes Bild. Dazu habe ich in

    http://www.frblog.de/aly/#comment-18177

    in nuce meinen Teil gesagt. Für sich genommen, passt das Lied mit seiner Aussage aber nicht zum Blogthema. – Manchmal führt Abschweifen eben doch für alle Beteiligten in die Irre.

    Gute Nacht

  129. @Theel

    Sie stellen alles immer wieder in den Begriffszusammnenhang der Nazis. Dagegen habe ich mich ja schon in vielen Diskussionen gewandt. Letztlich tradieren Sie damit, ungewollt und in diametraler Intension, den Sinnzusammenhang der Nazis.

    Die Weltsicht der Nazis war Blödsinn. Diese zum Maßstab zu erheben ist zuviel der Ehre. Sich davon zu lösen heißt, sie nicht anzuwenden, nicht positiv und nicht negativ.

  130. @138. BvG

    Muß ich es wirklich erklären?

    Ich stelle nicht „alles“ in den „Begriffszusammenhang der Nazis“, wie sie schreiben.

    Dieser „Begriffszusammenhang“ war durch das Blogthema vorgeben – manchmal halte ich mich sogar daran -, ich habe ihn nicht willkürlich gesetzt.

    1) Das was Sie dann schreiben ist ein – Verzeihung – abstruses Denk- und vor allem Redeverbot, wenn es so wäre, wie Sie behaupten.

    2) Natürlich ist es nicht so, dass eine Kritik am Faschismus mit seiner Befürwortung verwechselt werden kann, es sei denn bei Dummheit, nach dem Motto: Ich höhre das Wort „Führerhauptquatier“ in einem längeren, mir sonst unverständlichen Satz und schlösse daraus, da erzählt ein Nazi von alten Zeiten und indoktriniert die Leute im Sinne seiner Anschauung.

    3) Zudem muss weiter kritisch über den Faschismus geredet werden, so wie Denkmäler zur Mahnung gegen ihn nötig sind, damit nicht vergessen wird, was er wirklich war, es NIE WIEDER geschehe, nie wieder jemand sagen kann „Ich habe nichts gewußt“. In solcher Tradition der Kritik und des sich Erinnerns wird der „Blödsinn der Nazis“ wie sie, fast verharmlosend, schreiben nicht „zum Maßstab“ des Handelns, sondern das benannt, was nie Maßstab, sondern immer Barbarentum war, ist und sein wird.

    Es reicht nicht, „etwas“ „falsches“ einfach nicht zu tun, es bloß zu verschweigen, man muss das je „Angemessene“ „richtig“ tun.

    Nicht negativ, nicht positiv, das wäre neutral. Wären gegenüber dem Faschismus alle übrigen Länder neutral geblieben, gäbe es ihn wahrscheinlich heute noch.

  131. @ Uwe Theel/BvG
    Theel, ich muss (wie ich schon früher bereits geschrieben habe) BvG recht geben. Cockburn bezieht sich doch mit „new Jerusalem“ eindeutig auf Begriffe der „Pligerväter“, der „Gründer“ der USA. Mit Juden und Nazi-Vokabular hat es wenig zu tun.

    Zur „Heiligkeit“ Jerusalems habe ich an anderer Stelle auch schon geschrieben: Die Verwaltung der „Heiligen Stätten“ durch die jeweilige Religion ist eigentlich klar geregelt und funktioniert in der Praxis, es geht um (lösbare) „Statusfragen“. Den Bewohnern Jerusalems ist die „Heiligkeit“ der Stadt eher eine Last. Und für ein friedliches Zusammenleben der Religionen war Jerusalem noch nie ein gutes Beispiel, schaue man sich z.B. nur den erbitterten (und immer wieder auch physisch ausgetragenen) Streit der christlichen Konfessionen um die Grabeskirche an.

  132. @ 140. Abraham:

    1) Nach Lektüre des ganzen Songtextes, abraham, hatte ich meinen erste Interpretation auch revidiert:

    s.: http://www.frblog.de/aly/#comment-18177

    Wie ich bereits ausführte waren die drei von BVG leider nur isoliert zitierten Verse im Threadkontext durchaus „mißverstanden“ zu interpretieren. BvG selbst spricht inzwischen von einem Text zur „Religionsfreiheit“, was ich so auch nicht nachvollziehen und in den ursprünglichen Threadkontext schon gar nicht einbauen kann. – end of topic.

    2) Die Diskussion um Jerusalem als mögliches Symbol der Verständigung will ich hier nicht vertiefen. Ihre Diskussion mit heinrich ist in eine ganz andere – natürlich auch interessante – Richtung gegangen, als ich im ersten Gedanken intendiert hatte. Da will ich mich mit meiner Idee jetzt nicht nachdräglich draufhocken.

  133. @98 Heinrich

    Lieber Heinrich,

    ich habe über deine Antwort nachgedacht. Deine Ausführungen leuchten mir ein und bieten auf jeden Fall eine Fülle von Anregungen, nochmals vielen Dank. Sehr interessant finde ich die Stelle, in der du die Unterschiede zwischen „Verein“ und „Bund“ dargestellt hast. Aus diesem Grund bin ich auch deinem Buchtipp gefolgt und habe mir „Strukturen der Öffentlichkeit“ besorgt. (Bis ich es jedoch gelesen habe, werde ich zwar noch nicht in Rente, dieser Thread aber bestimmt geschlossen sein.)

    Du schreibst, das Bürgertum sei vor der Jahrhundertwende ein relativ homogenes Milieu gewesen. Hier habe ich mir ein kleines Fragezeichen an den Rand geschrieben. Ich meine mich zu erinnern, diesbezüglich etwas anderes gelesen zu haben, nämlich dass in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich das Bürgertum als eher schwach und nicht besonders homogen bezeichnet werden konnte. Vielleicht habe ich da aber etwas durcheinander gebracht. Ich bin keine Historikerin muss ich zu meiner Entschuldigung vorbringen und mache mir beim Lesen nicht immer gewissenhaft Notizen.

    Die „antimodernistische Subkultur“, die du beschreibst, ist meines Erachtens ohne die (rund) ein Jahrhundert zuvor begonnene Strömung der Romantik, nicht denkbar. Mich würde interessieren, wie du in dem Zusammenhang „antimodernistisch“ definieren würdest, bzw. wo hier die Grenze zur künstlerischen Moderne zu ziehen sei. Das Irrationale (auch Okulte) ebenso wie die Freikörperkultur spielen in der künstlerischen Avantgarde durchaus eine Rolle, am Beginn des 20. Jh. wesentlich zum Beispiel in den Werken des Expressionismus. Man denke an die Künstlergruppe „Brücke“, auch an den Film „Das Kabinett des Dr. Caligari“ von 1919, später findet das Irrationale u.a. im Surrealismus seinen Ausdruck.
    Dem entgegen stehen rationale Strömungen der 20er Jahre wie das„Bauhaus“ und Werke der„Neuen Sachlichkeit“. Hier lässt sich natürlich eher eine Verknüpfung zur geistesgeschichtlichen „Moderne“, im Sinne der Aufklärung und der Kantschen Vernunft herstellen.

  134. Liebe Susanne,

    nun ging es mir umgekehrt genauso wie dir: zufällig fand ich deine Antwort heute Nacht beim zufälligen Zurückstöbern.

    Eine ausführlichere Antwort erfolgt in Kürze.
    Bis dahin liebe Grüße
    Heinrich

  135. @ Susanne, Heinrich

    Zur Geschichte des Bürgertums in Deutschland (und Europa) des 19. und 20. Jahrhunderts empfehle ich auch Peter Gay, dessen Bücher auf Deutsch im Beck Verlag erschienen sind und leider wenig beachtet wurden.

    Für die Krise des deutschen Bürgertums, die Heinrich zu Recht als eine Quelle des Erfolges der Nazis bezeichnet, waren auch die Erschütterungen des ersten Weltkriegs mit verursachend – darin sind wir uns, denke ich, einig.

  136. Liebe Susanne,

    eine wahrhaft komplexe Thematik, auf die ich nur abrisshaft eingehen kann. Das 19. Jhd. gehört nicht zu meinen bevorzugten. Es sind natürlich auch Germanisten usw. eingeladen zu kritischen oder ergänzenden Kommentaren.

    Das im Gegensatz zu Frankreich schwache Bürgertum ist tatsächlich das zur Zeit der Romantik. Die Aufklärungs-Philosophen und Schriftsteller des 18. Jhd. sind letztlich die Vorbereiter und Propagandisten einer Revolution einer erstarkten bürgerlichen Klasse, die sich anschickt, dem Adel die politische Macht und soziale Herrschaft zu entreißen.
    In Deutschland werden die Ideen der Aufklärer und die Revolution von 1789 von der literarischen und künstlerischen Intelligenz begeistert begrüßt, allein, aufgrund eines nur schwach entwickelten Kapitalismus und dessen Protagonisten, des Bürgertums, ist eine entsprechende Revolution hier ohne Realisierungschancen, und infolgedessen werden die Ziele der Aufklärung in die Idealität verlagert. Rousseau benennt den realen zu überwindenden gesellschaftlichen Skandal: „Frei ist der Mensch geboren, und überall liegt er in Ketten.“. Der Rousseau-Verehrer Schiller macht daraus: „Frei ist der Mensch, und sei er in Ketten geboren.“.

    Der Begriff der „Moderne“ wird von mir ziemlich exakt in dem Sinne Sinne gebraucht wie in folgendem Lexikonartikel, mit den wesentlichen Epoche-Merkmalen: Aufklärung, Industrialisierung, Französische Revolution und liegt tatsächlich quer zum Begriff „Avangarde“ und „Moderne Kunst“.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Moderne

    Unter „antimodernistisch“ sind insofern vielfältige Haltungen und Bestrebungen gefasst, die sich gegen das rationalistisch-wissenschaftliche Weltbild der Aufklärung richten, sich kontradiktorisch zu den Veränderungen der industriellen Welt verhalten sowie den modernen bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsverfassungen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.

    In der Romantik, da muss man dir voll zustimmen, sind alle diese Momente z.t. in extenso repräsentiert, als zwar nachvollziehbare, aber letztlich reaktionäre Reflexe auf den mangelnden Einfluss, den die Künstler und Literaten auf die realen Verhältnisse haben. In Anknüpfung an den Geniekult des Sturm und Drang und die Rezeption von Fichtes Subjektphilosophie erscheint ein Individualitätskult, der das Ich abstrakt überhöht und die Wirklichkeit situiert, indem er sie ins Universum erhebt. Der einsam auf einem Felsgipfel stehende Wanderer Friedrichs, der über dem Nebelmeer stehend in eine ferne Unendlichkeit schaut, scheint mir hierfür beispielgebend. Die Zerrissenheit zwischen Individuum und Gesellschaft, die die Autoren u.a. auch darin erleben, dass sie sich zunehmend mit den Erfordernissen eines kapitalistischen Buchmarktes auseinandersetzen müssen, woran Schiller und Hölderlin zu verhungern drohten, wird in das Ich der eigenen Brust geholt, in welchem verschiedene Seelen streiten und dort z.t. mystisch harmonisiert, zur Zeit der Protoindustrialisierung, wo die Flüsse zum Himmel stinken und „die Wälder noch rauschen, der Amboss erklingt (!)“ (Bergisches Heimatlied), auf den die Wasserwerk-getriebenen Hämmer auf die Solinger Edelstahl-Messer schlagen, wird ein irreal-emphatisches Naturbild kreiert, das noch zweihundert Jahre später sogenannte grüne Nachgeborene dafür sorgen lässt, dass mir armem Auch-Naturwesen das erfrischende Bad in einem See verwehrt wird, wo ich Haubenlärchen stören könnte. Und in der Hochromantik wird als Gegenbild zu der in Klassenauseinandersetzungen befindlichen realen Gesellschaft das idealisierte bild eines eben vormodernen märchenhaft harmonischen Mittelalters gezeichnet. Hier, im „Volkslied“, „Volksmärchen“ usw. erscheint auch erstmals der verherrlichende Volksbegriff, anknüpfend an Herder und eben auch Fichte, in dem man durchaus den Vorboten der völkischen Ideologie sehen kann.

    Fortsetzung folgt, falls erwünscht.
    (Gib bitte mal kurz ein Zeichen, ob der Kommentar nicht in leere Luft gehaucht ist!

    Ich finde nicht, lieber Abraham, dass d a s Bürgertum durch den Weltkrieg in eine Kriese gerät, sondern nur bestimmte Teile. Krupp verdient ganz gut durch Kanonenhandel sowohl mit der kaiserlichen als auch der vereinigten königlichen Armee.

  137. @ heinrich,

    .. schließe mich abraham an.

    Da der Germanist gerade im Nachbarblog Dir hoffentlich korrekt an die Seite tretend, den alten Brecht gegen falsche Inanspruchnahme verteidigen musste und jetzt doch ins Bett muss, macht er jetzt aber Redaktionsschluß.

    Bis Morgen.

  138. Lieber Heinrich,

    du verweist auf einen Wikipediaartikel zur Definition des Begriffes der Moderne, den Du als Beschreibung Deiner eigenen Position grundsätzlich anerkennst. Demnach endet die Moderne so etwa mit dem zweiten Weltkrieg, nachdem wir in die „Postmoderne“ einträten.

    Die Wikipedia beschreibt diesen Übergang in zwei Formationsphasen, deren zweite, entscheidende gekennzeichnet sei durch

    … Prozesse der Theoriebildung und Methodenfindung. Hierunter fallen unter anderem Arbeiten von Michel Foucault, Jacques Derrida, Roland Barthes, die Dekonstruktivismus, Poststrukturalismus und Diskursanalyse als analytische Methoden entwickelten, wie auch von Luce Irigaray, die auf Basis der Arbeiten des Psychoanalytikers Jacques Lacan die feministische Theoriebildung vorantrieb.

    Bahnbrechend für die Postmoderne als unter diesem Begriff fassbare geistig-kulturelle Bewegung war schließlich Jean-François Lyotard mit seiner Schrift Das Postmoderne Wissen, die 1979 zuerst veröffentlicht wurde und den Begriff „Postmoderne“ allgemein bekannt machte. … (er) bereitete (…) mit seiner These des Endes der großen Erzählungen die Basis für viele Entwicklungen in Philosophie, Kunst, Kultur, sowie den Gesellschaftswissenschaften.

    Nach Lyotard gibt es drei große Meta-Erzählungen:

    1. Aufklärung
    2. Idealismus
    3. Historismus

    Diese bilden in der Postmoderne keine vereinheitlichende Legitimation und Zielorientierung mehr. Die Emanzipation des Individuums, das Selbstbewusstsein des Geistes, das im Sinne Hegels in eine Ganzheitsideologie mündet, und die Idee eines sinnhaften Fortschritts der Geschichte hin zu einer Utopie sind die großen Erzählungen, denen man nicht mehr glauben kann. Folglich kann es auch kein Projekt der Moderne mehr geben, keine große Idee von Freiheit und Sozialismus, der allgemeine Geltung zu verschaffen ist und der sich alles gesellschaftliche Handeln unterzuordnen hat.

    Es gibt keine übergeordnete Sprache, keine allgemeinverbindliche Wahrheit, die widerspruchsfrei das Ganze eines formalen Systems legitimiert. Wissenschaftliche Rationalität, sittliches Handeln und politische Gerechtigkeitsvorstellungen spielen je ihr eigenes Spiel und können nicht zur Deckung gebracht werden.

    Ich nehmen an, dass wir beide mit der Begrifflichkeit „Erzählung“ keine Schwierigkeiten haben, auch grundsätzlich mit dem Beginn der Moderne in der Französischen Revolution mit Ihren Wurzeln in der Aufklärung d´accord gehen.

    Allerdings habe ich Schwierigkeiten mit der Interpretation des – zwar beobachtbaren/beschreibbaren – Zerfallens von „Gewißheit“ des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs für den einzelnen Menshen in unzählige einzelne Erzählstränge, die keinem gemeinsamen „Bildungsgesetz“ mehr gehorchten, wenn auch der Einzelene seinen individuelle „Erzählung“ gerade noch, wenn er Glück hat für sich „unter einen Deckel“ kriegen kann, diesen „Gesamtzerfall“ aber mir nicht erklären kann.

    Mich erinnert das stark an die in Deutschland durch Niklas Luhmann bekanntgewordene „Systemtheorie“ in der Soziologie und Politologie, die hier insebsondere der „kritischen Theorie“, damit „linker Theorie“ auf analoge Weise entgegentrat.

    Würdest Du diesen behaupteten Epochenwechsel „Moderne-Postmoderne“ anerkennen, oder erscheint er Dir (auch) mehr als eine ideologische, also antiemanzipatorische Pseudoerklärung der „Lösung“ sein soll, dass das Indivisum zwar für sich immer einen kohärent zu erklärenden Weg finden könne, aber er sich dabei nicht auf ein ebenso kohärentes Gesamtsystem, sei es selbst als dialektisch Gefasstes zu verstehen, mehr, verlassen kann, bzw. je hat verlassen können („jeder ist seines Glückes Schmied“)?.

    Gäbe es diesen Wechsel „Moderne-Postmoderne“ dann tatsächlich, dann wäre die Diskussion über die Wurzeln der Moderne (Aufklärung, Vernunft, etc.), ihre Wirklichkeit, Wirkung selbst selbst nur noch von historischer Bedeutung, und uns bliebe nur noch die Beschreibung „irgendwie“ funktionierender Subsysteme die wir „konstruieren“, „dekonstruktieren“ können je nach Interessen- und Machtlage, deren „Erzählungen“ aber niemandem mehr irgendetwas wirklich versprechen, geschweigeg denn garantieren könnten, dies auch gar nicht mehr sollen. Dass dabei großzügig davon abgesehen wird, dass es trotzdem damit aber immer noch das einheitliche Glücksversprechen für den modernen Menschen weiter geben soll, sei hier nur noch am Schluss angemerkt.

  139. Lieber Heinrich,

    Vielen Dank für deine Antwort. Du weißt doch, dass ich deine Ausführungen immer sehr gerne lese. Deswegen freue ich mich natürlich auch über Fortsetzungen.
    Da du so ausführlich auf die Romantik eingegangen bist, lieber Heinrich, wage ich jetzt doch dir (und allen anderen) die Frage zu stellen, ob Du (Ihr) zufällig das Safranski-Buch gelesen hast(habt). Die zweite Hälfte des Buches ist mit „Das Romantische“ überschrieben. Im letzten Kapitel widmet sich der Autor auch der 68er-Bewegung. (Somit wären wir wieder unmittelbar beim Thema.) Mich würde Deine (Eure) Meinung hierzu interessieren.

    Herzliche Grüße
    Susanne

    PS: Ist Dir schon aufgefallen, dass ich Dir eine Antwort in dem Themenstrang: „(…) Schwimmbad bauen…“ geschrieben habe. Wollte ich nur mal so anmerken wegen des Waldes und seinen Rufen 😉

  140. Lieber Herr Theel,
    ich habe vor kurzem eine Vorlesung von Wolfgang Welsch (den ich als Autor sehr schätze) gehört(Philosophie nach 45, die in einer CD-Reihe existiert). Er stellt in dieser Reihe auch Lyotard vor, dem er persönlich sehr nahe stand. Dabei wurde mir dann klar, dass ich von der Postmoderne zuvor eine völlig einseitige Vorstellung gehabt hatte, sie eher mit Beliebigkeit in Verbindung gebracht hatte. Mit dem Postmoderne-Begriff von Lyotard hat das überhaupt nichts zu tun. Anscheinend wurde dieser Philosoph häufig missverstanden, insbesondere in Deutschland. Man warf ihm vor, eine gegenaufklärerische Position zu vertreten. Dies war jedoch nicht seine Absicht. Lyotard wollte mit dem Begriff „postmodern“ keine neue Epoche bezeichnen, es ging ihm um eine kritische Auseinandersetzung mit der Moderne. So spricht er sich dagegen aus, die Welt mit einem Einheitsmodell erklären zu wollen. In seinem Buch „Der Widersrteit“, befasst er sich –mit meinen eigenen Worten gesagt-mit der Frage, was es bedeutet, wenn man z.B. in einem Streit nicht mehr sagen könne, wer eindeutig Recht hat, da unterschiedliche Diskursarten zu Grunde liegen. (Hier bezieht er sich z.B. auf Wittgenstein) Er nennt dies einen„Widerstreit“, der nicht zu verwechseln ist mit einem „Rechtsstreit“. Ich bin bei dem Buch leider noch im ersten Viertel, deshalb kann ich im Wesentlichen nicht mehr dazu sagen. Ich finde seine Überlegungen hochinterresant, jedoch nicht auf Anhieb verständlich. Deshalb warne ich davor, anhand eines Wikipedia-Artikels zu (negativen) Schlussfolgerungen über ihn und sein Werk zu gelangen.

  141. Liebe Susanne,

    vielen Dank für Ihren Hinweis, der mich aber leider nicht wirklich beruhigen kann, aber im Denken weiter anregt:

    Sie paraphrasieren im Grunde meinen Eindruck des Ansatzes von Lyotard, den ich nicht zufällig mit dem systemtheoretischen Ansatz von Lumnann verglich, der mich auch nie überzeugte.

    Selbst wenn wir annehmen können, dass mit der Postmoderne bei Lyotard keine neue Menschheitsepoche gemeint sei, bleibt für mich die Frage offen, warum der beobachtbare, vom einzelnen Subjekt durchaus auch real erfahrbare Zerfall der Möglichkeit zum Gewinn von Gewissheit beweisen soll, dass es keinen „einheitlichen“ Denk- und Handlungsansatz (mehr) geben sollte, der – selbstverständlich – erst im „Widerstreit“ eines Diskurses kommuniziert, verhandelt und umgesetzt werden muss. Was sollte „dialektisches Denken“ sonst heißen, warum sollte sich so Einheit des Gedankens, damit Gewißheit des Handelns, mindestens für jeweils den nächsten Schritt im Leben nicht herstellen lassen?

  142. Lieber Herr Theel,
    nun, ganz so „selbstverständlich“ ist das nicht, was Lyotard beschreibt. Einer seiner Thesen lautet dass eine Vielzahl von Streitigkeiten als Rechtsstreit behandelt würden, aber in Wirklichkiet handelt es sich um etwas anderes, nämlich um einen „Widerstreit“. Lyotard bezieht sich auf die unterschiedlichen Diskursarten.
    Das bedeutet, er untersucht z.B. den Streit des Protagoras mit seinem Schüler Eulathos. Protagoras hatte Eulathos seine Ausbildung bezahlt und einen Vertrag geschlossen, das Geld sei dann zurückzuzahlen, wenn dieser wenigstens einen Rechtsstreit gewonnen hätte. Nun treffen sich die beiden irgendwann wieder und Protagoras fordert sein Geld ein. Eulathos lehnt ab, mit der Begründung er habe noch keinen Rechtsstreit gewonnen, worauf Protagoras erwidert, Eulathos habe mit ihm auch einen Rechtsstreit, weshalb er auf jeden Fall zahlen müsse. Begründung: Wenn Eulathos wenigstens einen Rechtsstreit gewonnen hat, muss er zahlen. Hat er jedoch noch keinen Rechtsstreit gewonnen hat, gewinnt er den Rechtsstreit gegen Prothagoras. Somit hat er einen Rechtsstreit gewonnen und muss ebenfalls zahlen.
    Nun kommen die unterschiedliche Diskursarten zum Tragen. Nach Russell und seiner Typentheorie ist der Satz logisch nicht akzeptabel, da selbstreferentiell. Hier hätte also Eulathos recht.
    Legt man jedoch eine andere Diskursart zu Grunde, die den Faktor der Zeit berücksichtigt. (Weil das Beispiel so kompliziert ist, kann ich das nicht näher erläutern), würde Prothagoras gewinnen.
    Das heißt es ist nicht möglich, objektiv zu sagen wer von beiden nun recht hat, da abhängig von der gewählten Diskursart. Lyotard grenzt sich hier gegen Habermas ab, welcher, den Konsens innerhalb einer idealen Sprechsituationen anstrebt. Lyotard meint jedoch, aufgrund der unterschiedlichen Diskursarten, könne es den Konsens nicht geben und man kann ihn auch nicht von oben verordnen oder mit Hilfe eines Konzeptes schlichten, da eine Seite unterdrückt würde. Ihm geht es also um die Frage wie Gerechtigkeit unter diesen Bedingungen möglich sei. Ich finde seine Überlegungen sehr bemerkenswert und auf die heutige Welt bezogen eine treffende Zustandsbeschreibung.
    Bei einem Rechtsstreit entfallen die oben genannten Probleme logischerweise, da die Regeln klar sind.

  143. Liebeb Susanne,

    zwar habe ich zum Abendessen zwei Glas Wein getrunken, aber ich glaube, auch ohne diese wüsste ich im Augenblick nicht, wie oft ich die Geschichte von Protagoras und seinem Schüler Eulathos lesen müsste um Sie wirklich zu begreifen, ob ich sie als solche überhaupt begreifen kann.

    Was mir allerdings in den Sinn gekommenn ist, ist folgendes: Es wird ein Unterschied gemacht zwischen Rechtsstreit und Widerstreit. Beim Ersteren sei (fast) alles zu klären, weil es klare Regeln gäbe. „Modern“ gesprochen: Die Beziehungen sind vertraglich (gesetzlich) geregelt, Verträge sind durch Rechtsgarantien gesichert; eine unabhängige Justiz überprüft und schützt in zweiter Linie.

    Beim Widerstreit wird es schwieriger: Offensichtlich gibt es hier keine Regeln. An die Stelle scheint der Diskurs in verschiedenen Spielarten zu treten, den ich jeweils frei (?) auswählen kann.

    Da ist mir aber schon die Spanne nur zwischen Habermas und Wittgenstein zu groß um zu erkennen was ein Ansatz wie der von Lyotard da eigentlich überbrücken will, oder wo er den „dritten“ Weg zu finden hofft.

    Ich war noch nie damit zufrieden, ja einverstanden, dass die Welt in sich „so“ verschieden sei, dass man sie eigentlich in ihren Existenzformen mehrheitlich als geschieden (unvereinbar) nur halten könnte.

    Die Juristen sagen, glaube ich, es ginge nicht um Gerechtigkeit (=Gewißheit im existenziellen Sinne), sondern nur um Recht(sicherheit)(=Berechenbarkeit im buchhalterischen Sinne). Die stelle der Rechtstreit – hoffentlich – i.o.a.S. her.

    Was aber ist dann der Vorteil, oder die Alternative im Widerstreit, der offenbar, wenn ich es recht verstehe, gar keine Gewißheit bringen kann/soll, ein ewiger Sysiphosdisput zu sein scheint. Genau solcher Logik entspricht ja aber das sogenannte Theoriegebäude der Sytemtheorie, die Philosphie des Dekonstruktivismus, oder die Kommunikationsformel von der endlosen Auswahl aus den Diskursformen. Dem entpricht die Unendlichkeit der so entstehehende „Erzählungen“, nur erkenne ich dann irgendwann nicht mehr welche Geschichte „insgesamt“ erzählt wird. Und erst dann wird die Geschichte doch rund.

    Unendlich Geschichten erzählen ist eine Sache und wunderbar, bestimmte, bestimmbare Gewißheit haben eine andere, die ebenso notwendig ist.

  144. @ Uwe Theel

    Liegt es vielleich daran, dass in unserem westlichen Denken zu wenig Platz für Widersprüchliches ist? Sind wir wirklich in der Lage, sozusagen von der objektiven Warte her alles zu erkennen oder sehen wir nicht immer nur Teilaspekte? Müssen wir nicht lernen, (in demütiger Erkenntnis unserer Beschrenktheit) Widersprüche zu ertragen statt sie immer „auflösen“ zu versuchen?

    Viel Wahrheit liegt in dem alten jüdischen Witz (der sogar die „Klarheit“ des Rechtsstreits in Frage stellt): Zwei Streithälse treten vor den Rebbe, damit er schlichtet. Trägt der erste vor und der Rebbe sagt: Du hast recht. Entgegnet der andere und der Rebbe sagt: Du hast recht. Darauf die Rebbezin aufgebracht: Du kannst nicht beiden Recht geben! Antwortet der Rebbe: Auch Du hast recht.

  145. @ abraham

    Ich glaube, den Widerspruch zu ertragen und versuchen ihn aufzulösen, sind die zwei Seiten einer Medaille. Das Reich der Widerspruchsfreiheit, das wäre wohl das, wass wir Paradies nennen.

    Ich will, obwohl keine Fachmann dafür den Blick auf das richten, was wir den „östlichen Weg zur Erkenntnis“ nennen. Dort werden die Widersprüche wohl auch nicht geleugnet, aber mit größerer Gelassenheit diskutiert. Leider muß man hier wohl heute dazusetzen: Solange die tatsächliche Welt dem Menschen dafür noch Raum und Zeit und Erhaltung läßt.

    Wenn der Pfeil des Zenmeisters trifft, bevor er die Sehne des Bogens verläßt, wie oft hat es der Zenschüler dann zuvor versucht?

    Wenn der Widerspruch sich löst, dann fällt die Anstrengung ab vom Begriff.

  146. @ Susanne

    Fortsetzung

    Das Safranski-Buch habe ich nicht gelesen, nur eine negative Kritik. aber da du es empfiehlst, werde ich es nachholen, und da du es kennst, habe ich wohl mit meinen immer zu knappen und zu ausführlichen Darlegungen bei dir offene Türen eingerannt. Entschuldige das bitte!

    Der von mir verwendete Begriff der „Moderne“, wird von Hegel als Charakterisierung der fraglichen Epoche ins Spiel gebracht, ebenso wie der der „Bürgerlichen Gesellschaft“. „Moderne“ als Kunstepoche ist aber natürlich auch für mich die künstlerische Avantgarde ab 1900. Der „Antimodernismus“, das muss ich doch noch präzisieren, richtet sich gegen beide, insofern er sich sowohl, wie beschrieben, „antibürgerlich“ geriert als auch paradoxerweise gegen die Avantgarde als „entartete Künstler“ agitiert, die sich doch gleichermaßen vom saturierten Bürgertum, den schon von den Romantikern so genannten „Philistern“ abgrenzt. In beide Haltungen spielen auch überlieferte antiwestliche, speziell antifranzösische Ressentiments hinein.

    In Frankreich, um darauf zurückzukommen, ist das Bürgertum zwar stark, aber durchaus als Klasse nicht homogen. Das Großbürgertum schließt sich mit den Plebejern im antifeudalen Kampf zusammen, aber nach der Revolution brechen die Widersprüche auf zwischen Großbürgertum und Kleinbürgertum. Die Getreidehändler haben ein Interesse an hohen, die Bäcker an niedrigen Getreidepreisen.

    Deutschland avanciert etwa 1885 zur führenden Industrienation der Welt. Infogedessen ist auch hier das Bürgertum in der zweiten Jahrhunderthälfte eine ökonomisch und erstarkte Klasse, erreicht aber seine Teilhabe an der politischen Macht nicht, wie 1848 gescheitert, im Bündnis mit der Arbeiterklasse gegen die Aristokratie, sondern unterstützt 1871 im Bündnis mit dieser in einer „Revolution von oben“ die Bildung des 2. Kaiserreiches.

    Selbstverständlich gibt es auch hier ökonomische Klassendifferenzierungen zwischen einem industrie- und handelskapitalistischen Großbürgertum, kleinen Händlern und Handwerkern und einer bildungsbürgerlichen Schicht von Professoren und Gymnasiallehrern, auf dem flachen Land auch den sog. „Honoratioren“, Pfarrern, Ärzten. Apothekern.

    Unter „homogenem Milieu“ versteht man hier wohl eine relative Angleichung in Lebensstil und Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben. Indem durch die beschriebenen Konzentrationsprozesse (Konzerne, Warenhäuser) bestimmte Schichten vom ökonomischen Abstieg betroffen bzw. bedroht sind, durch den Weltkrieg und das Ausscheren wesentlicher Teile der jungen Generation aus diesem Lebenszusammenhang bricht dieses Milieu auseinander.

    Soweit jedenfalls meine Kenntnisse und Interpretationen meiner spärlichen historischen Quellen darüber.

    Deine Anmerkungen zum Expressionismus und zu anderen Strömungen verstehe ich als Ergänzung zu meinen entsprechenden Bemerkungen. Aufgrund des Facettenreichtums der Künstler und Richtungen entziehen sie sich einer verallgemeinernden ideologischen Zuordnung.

    Das entscheidende Defizit ist m.e. weniger in diesen oder jenen Produktionen oder künstlerischen Orientierungen zu sehen, sondern darin, dass zumal in der Welt-Kulturstadt Berlin – man übersieht leicht, dass das damals nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt war – das künstlerische und intellektuelle Milieu zu wesentlichen Teilen ein Boheme-Milieu war, ohne Bezug auf die realen gesellschaftlichen Probleme und politischen Entwicklungen, in welchem die Republik keine Stütze hatte gegen ihre faschistische Unterhöhlung.

  147. Lieber Heinrich,
    ich habe das Safranski-Buch tatsächlich gerne gelesen. Mir sind dadurch einige Zusammenhänge klar geworden, die ich vorher so überhaupt nicht erfasst hatte. Daher hat sich die Lektüre für mich auf jeden Fall gelohnt. Ich rate allerdings, den Abschnitt über die 68er nicht als Erstes oder gar nur ausschließlich zu lesen. Ich fürchte, dass dein Urteil, falls du nur dieses Kapitel lesen würdest, negativ ausfallen würde. Es gibt darin nämlich durchaus Widerspruch provozierende Passagen. Die erhellenden Aspekte jedoch kommen erst richtig im Gesamtzusammenhang zur Geltung.
    Ach, Heinrich, du brauchst dich doch nicht dafür zu entschuldigen, falls du bei mir offene Türen einrennst. Wie ich schon schrieb, freue ich mich über deine Ausführungen, so auch diesmal.
    Ich hätte dazu lediglich noch eine kleine Anmerkung. Du schriebst:
    „’Moderne’ als Kunstepoche ist aber natürlich auch für mich die künstlerische Avantgarde ab 1900. Der ‚Antimodernismus’, (…) richtet sich gegen beide, insofern er (…) auch paradoxerweise gegen die Avantgarde als „entartete Künstler“ agitiert, die sich doch gleichermaßen vom saturierten Bürgertum, den schon von den Romantikern so genannten „Philistern“ abgrenzt.“
    Ich stimme dir natürlich zu, dass die künstlerische Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel die Werke des Expressionismus` Proteste beim Publikum hervorriefen. Da viele dieser Werke heute dekorativ in den Wohnzimmern hängen, kann man sich kaum noch vorstellen, wie revolutionär diese Arbeiten damals waren. Vermutlich renne ich jetzt bei dir offene Türen ein, wenn ich schreibe, dass der Begriff „Entartete Kunst“ jedoch erst von den Nationalsozialisten zu Zwecken der Diffamierung geprägt worden war. Der zeitliche Bezug der Passage war für mich ganz eindeutig.
    Herzliche Grüße Susanne

  148. Der letzte Satz lautet natürlich richtig: Der zeitliche Bezug der Passage war für mich NICHT ganz eindeutig.

  149. Hallo Susanne

    Immer schön charmant, die junge Dame, gell? Statt „das finde ich falsch“ schreibt sie: „… war für mich NICHT ganz eindeutig“.

    Also vereindeutige ich es dir.

    1. Ich spreche nicht von der Spaltung zwischen anspruchsvoller Kunst und Massengeschmack. Dieses Phänomen existiert mindestens seit der Professionalisierung der Künste und der damit verbundenen Herausbildung einer eigenen ästhetisch gebildeten Schicht. Der Aufklärer Johann Christoph Gottsched, der dies für das Theater zu Beginn des 18. Jhd. zusammen mit der Neuberin unternimmt, schreibt über den Zustand des Theaters seiner Zeit: „Lauter schwülstige und mit Harlekinslustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam.“
    Und der größte Erfolgsroman um 1800 war nicht „Die Wahlverwandtschaften“ von Goethe, sondern der triviale Räuberroman „Rinaldo Rinaldini“ seines späteren Schwagers Christian August Vulpius.

    Ich spreche also nicht von den Protesten beim Publikum des Massengeschmacks, sondern von bildungsbürgerlichen reaktionären Kräften der Rechten, die einen Kulturkampf gegen die Avantgarde führten.

    2. Der Begriff „entartete Kunst wurde schon im 19. Jahrhundert geprägt und von den Nazis übernommen. Der Romantiker Friedrich Schlegel benutzte ihn schon, auf jeden Fall Ende des 19. Jhd. pikanterweise der jüdische Schriftsteller Max Nordau. Und die Nationalsozialisten gab es eben auch schon während der Weimarer Republik und attakierten gegen ende der zwanziger Jahre die gesamte moderne Kunst als „kulturbolschewistisch“ und „entartet“.

    Einen schönen Gruß von
    Heinrich

  150. Lieber Heinrich,
    vielen Dank für deine erhellende Antwort. Es war mir tatsächlich nicht klar, dass der Begriff „Entartete Kunst“ schon von Schlegel verwendet worden war trotz der Lektüre des Romantikbuches. Nun bin ich um eine Erkenntnis reicher. Wie soll ich denn Deinen Eingangssatz verstehen? Hat der Herr etwa ein Problem mit meinem Charme?

  151. @ Susanne

    Madame, ich habe keineswegs Probleme mit Ihrem Charme, ganz im Gegentum.
    Aber Sie haben offenbar Probleme, meine Komplimente als die artigen Höflichkeiten zu nehmen, als die sie arglos gedacht sind.
    Ähnlich wie bei Abrahams Respekt-Appellen wird
    bei mir wohl allzu leicht Hintergründiges mit spitzer Feder geschrieben vermutet. Ich wüsste nicht, womit ich solches verdient hätte.

    „Entartet“ bedeutet wohl ursprünglich „aus der Art geschlagen“ und findet dann in der Medizin die Bedeutung „degeneriert“ im Sinne von „verkümmert“ und nimmt dann in der völkischen und rassistischen Ideologie die pejorative Bedeutung an.

    Im großen, 33-bändigen „Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Jakob und Wilhelm Grimm erscheint es so:

    ENTARTEN, degenerare, ausarten, aus der art schlagen, STIELER 59, nnl. ontaarden, vgl. unarten:

    1) der stamm entartet, verdirbt; eine entartete mutter, nnl. ontaarde moeder;

    entartet, Romulus enkel, und gleicht
    bei dem wollustmahle dem thier!
    KLOPSTOCK 8, 98;

    sie entarten nicht, sie gehen aus.
    STOLBERG 9, 285;

    wenn die liebe die nemliche ist, wie könnten ihre kinder entarten? SCHILLER 112a.

    2) in etwas: die natürliche grazie der stellung entartet in eine beugung, als ob er sich ein kleid wollte anmessen lassen. SCHILLER 699b.

    3) zu etwas: dieses streben entartete zu geheimniskrämerei. BECKERS weltg. 12, 16.

    4) sich entarten: wie die gute speise in einem verdorbenen magen von ihrer guten eigenschaft sich entartet und in ungesunden, schädlichen saft verändert. BUTSCHKY Patm. 733.

    wie du wohl von Safranski weißt, war nicht alles aus der Romantik entartet.

    Das 1838 begonnene Wörterbuch verdanken wir dem Umstand, dass die Brüder Grimm 1837 als Professoren der Göttinger Universität, die Heine bereits ein gut Jahrzehnt zuvor samt der Stadt als Kulturdenkmal preist („Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität“), entlassen und des Landes verwiesen wurden.

    http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1144&kapitel=2&cHash=8acd486e252#gb_found

    Sie veranschlagten zehn Jahre für die Redaktion des Wörterbuchs, daraus wurden über 120 Jahre. Da das Wörterbuch auch umgangs- und regionalsprachliche Wörter entalten sollte, damit man mit seiner Hilfe die Leute verstehen kann, wenn man als Hochdeutscher z.B. in deine Gegend sich verirrt, beschäftigten die Grimms 80 über das Land verteilte Agenten, die ihnen die dort jeweils gebräuchlichen Wörter zugemailt haben. Als Wilhelm 1859 über dem Buchstaben „D“ stirbt, hinterlässt er dem armen Jakob einen Sack mit einer Million Zetteln auf denen jeweils ein Wort und auf der Rückseite die Bedeutung steht. Jakob kommt noch bis „F“, so dass „entartet“ noch von seiner ehrwürdigen Hand stammt.

    Eine andere Errungenschaft der Romantik sind natürlich die schreibenden Frauen, wie Rahel Levin-Varnhagen. Rahel beschreibt sich im doppelten Sinne als Ausgestoßene der Gesellschaft: als Frau und als Jüdin (die christliche Taufe, nach Heine das „Entree- Billet zur europäischen Kultur, änderte daran wohl nichts). Jedoch gewinnt sie die Verehrung und Freundschaft bedeutender Literaten ihrer Zeit. Der halb so alte Heine schreibt, nachdem er in ihrem Salon war „Ich wünsche mir ein Hundehalsband mit der Inschrift: Ich gehöre Frau von Varnhagen.“
    (Ach, wie ich das Googlen liebe! Um den genauen Wortlaut zu erhalten gab ich „Heine“ und „Hundehalsband“ ein und bekam prompt vom Heine-Versand ein solches angeboten, das ich bequem online bestellen und per Rechnung bezahlen könnte).

    Heine schreibt ja eigentlich im „Buch der Lieder“ die schönsten romantischen Gedichte – das Loreley-Lied haben selbst die Nazis unter „Verfasser unbekannt“ in den Lesebüchern belassen – lässt aber keine Gelegenheit für einen hübschen antiromantischen Spott aus.

    Schöne Grüße von
    Heinrich

    (Bin ein wenig episch breit ins Erzählen geraten, man verzeihe mir!)

    Heinrich Heine
    Das Fräulein stand am Meere

    Das Fräulein stand am Meere
    Und seufzte lang und bang,
    Es rührte sie so sehre
    Der Sonnenuntergang.

    „Mein Fräulein! Sein Sie munter,
    Das ist ein altes Stück;
    Hier vorne geht sie unter
    Und kehrt von hinten zurück.“

  152. @ Heinrich

    „Ähnlich wie bei Abrahams Respekt-Appellen“

    Lieber Heinrich, bin mir keiner „Schuld“ bewußt. Respekt-Apelle brauch ich in Deine Richtung nicht senden, den des respektvollen Umgangs (egal ob wir übereinstimmen oder über „blinde Solidarität“ streiten) bin ich mir Deinerseits sicher. Außerdem bereitet mir Deine leichte Feder auch bei ernsten Themen immer wieder Vergnügen.

    Dein Hinweis auf Rahel Levin-Varnhagen erinnert mich daran, dass ich ja die Entwicklung des deutschen Judentums im 18. und 19. Jahrhundert nachtragen wollte. Wird das noch gewünscht?

  153. @ Abraham

    Lieber Abraham,

    wart‘ ab, zur blinden Solidarität soll ja noch ein harscher Widerspruch kommen, wenn ich dazu komme!

    „Wird das noch gewünscht?“ Ja natürlich, was gibt es da überhaupt zu fragen?

  154. @ Susanne

    Liebe Susanne,

    beim nochmaligen Durchsehen des Threads stieß ich auf deine Frage #37. Da du so charmant bist, hier meine persönliche Antwort:

    1.. Welche Denker haben die Studentenbewegung beeinflusst, welchen Stellenwert hatte die Auseinandersetzung mit der Theorie überhaupt?

    Das lässt sich natürlich, da die „Bewegung“ sehr disparat war, nur annähernd beantworten.

    Dem Anspruch nach orientierte sich die 68er am Marxismus, der aber weitestgehend sekundär rezipiert wurde.

    Hier eine Auswahl von bevorzugt gelesenen Autoren und Werken:

    Karl Marx , Das kommunistische Manifest, Philosophisch-ökonomische Manuskripte

    vorwiegend „unorthodoxe“ Marxisten:

    Rosa luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals

    Karl Korsch, Marxismus und Philosophie,

    Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein

    Autoren, zumal aus dem Umfeld der „Frankfurter Schule“, die eine Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse herzustellen versuchten, z.T. auch, wie Marcuse, von der Technik- und Zivilisationskritik Heideggers inspiriert waren:

    Siegmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse

    Wilhelm Reich, Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse

    Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft

    Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft.

    Jürgen Habermas, Theorie und Praxis; Erkenntnis und Interesse; Technik und Wissenschaft als Ideologie

    Als praktischer Beleg für kapitalistische Ausbeutung sehr beliebt die Industriereportagen von Günter Wallraff.

    So um 1970 erschien zum Thema sexuelle Aufklärung und Befreiung das viel gelesene und ungewohnt locker geschriebene und bebilderte Buch von Günther Amendt, „Sexfront“.

    Daraus kannst du dir natürlich nur eine Auswahl ansehen. Eine bevorzugte Mini-Auslese wäre:
    „Das kommunistische Manifest“, „Das Ich und das Es“, „Der eindimensionale Mensch“, Wallraff, Dreizehn unerwünschte Reportagen.

    Optimal zum Erfassen der Grundstimmungen und-überzeugungen, wenn in einer Bibliothek verfürbar, die entsprechenden Jahrgänge der Zeitschrift „Konkret“, hier zumal die Kolumnen der Ulrike-Marie Meinhof und die Beiträge von Otto Köhler und Hermann Gremliza, zur Philosophie die Aufsätze aus der Zeitschrift „Das Argument“, und zum einfühlen in das anarchische Lebensgefühl die satirische Zeitschrift „Pardon“, v.a. „Mein progressiver Alltag“ von Clodwig Poth (gips auch gesammelt als Taschenbuch).

    Bei uns zumindest wurde tatsächlich an den WG-Küchentischen und in den Kneipen so diskutiert und referiert, dass man den wesentlichen Inhalt der genannten Bücher auch ohne Lektüre mitbekam. Die Toiletten- und andere Wände in den Kneipen waren voll mit Zitaten und Parolen. Die Studentenbuden waren tapeziert mit einer Fülle riesiger politischer Plakate.

    Es war die kommunikativste Zeit meines Lebens, auch wenn ich viele Nächte mit derselben gepennt habe, so habe ich doch eine Menge Leute kennengelernt (Am Freitag treffe ich mich traditionsgemäß mit über 30 ehemaligen Kommilitonen aus der Zeit).

    2. 1. Denkrichtungen unmittelbar nach 1945: Kann bei Bedarf hinzugefügt werden.

    Gut’s Nächtle!

  155. Ergänzung: „Das Ich und das Es“ ist von Freud, „Der eindimensionale Mensch“ von Marcuse.
    h.

  156. Als Ergänzung zu Heinrich noch einige Titel meiner Lektüre, die noch in meinem Bücherregal stehen:
    Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital
    Ernest Mandel: Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie
    Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen
    Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung
    D. Meadows (Club of Rome): Die Grenzen des Wachstums
    Erich From: Die Kunst des Liebens

  157. @ Heinrich # 163

    Zum Thema „blinde Solidarität“:

    In der Jüdischen Allgemeinen vom 21. Februar antwortet Christian Semler auf die Frage, warum eines der Hautanliegen des Berliner SDS der „revolutionäre Kampf des palästinensischen Volkes gegen den Zionismus“ war:

    „Das hing natürlich aufs Engste mit dem Sechstagekrieg 1967 zusammen. Davor gab es im SDS eine Verbundenheit mit den linken Strömungen in Israel. Danach, auch unter dem Einfluss der revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt, wurde der Staat Israel als abhängig vom „US-Imperialismus“ gesehen. Und da man damals auf der Suche nach dem „revolutionärem Sujekt“ war, wurden die palästinensischen Gruppen dazu auserkoren.“

    Seine damalige Position kommentiert er heute:

    „Letzten Endes war unsere Vorstellung, man könnte in Nahost einen multiethnischen Staat errichten, in dem alle Völker friedlich miteinander leben, eine Idee, die an den realen Bedingungen völlig vorbeiging. Da waren wir naiv. Die Verteidigung des Existenzrechts Israels hat sich erst nach längeren Irrwegen wieder als Gemeingut der Linken herauskristallisiert.“

    Das Interview wurde anlässlich der Veröffentlichung von Alis Buch geführt, also sind wir nicht off topic.

  158. Lieber Heinrich,
    hui, gleich mehrere Antworten auf einmal-wie schön. Da bedanke ich mich doch ganz charmant (auch bei Ihnen,abraham für die Ergänzungen). Die Namen der Autoren und Titel deiner „Lektüreliste“ sind mir als Feuilleton-Liebhaberin vertraut. Mit der „Frankfurter Schule“ habe ich mich näher beschäftigt, kenne allerdings nur wenige der Originaltexte. Dein Tipp mit den Zeitschriftenaufsätzen werde ich aber bei Gelegenheit beherzigen. Mehr werde ich, wie ich fürchte, im Augenblick nicht lesen können, da sich mittlerweile ein kleiner Stapel Bücher neben meinem Bett angesammelt hat, u.a. auch deine Habermas-Empfehlung, dem ich mich jetzt erst mal zuwenden möchte. Außerdem besteht das Leben ja nicht nur aus der Versenkung in Bücher. Damit wäre dann auch hübsch zu deiner WG-Küche übergeleitet. Deine persönliche Beschreibung hat mir gefallen. So ähnlich habe ich mir das vorgestellt. Beeindruckend finde ich es, dass du gleich zu so vielen deiner ehemaligen Kommilitonen heute noch Kontakt pflegst. Zur sexuellen Revolution der 68er Bewegung fällt mir ein, dass ich vor Kurzem auf ein Aufklärungsbuch für Kinder aus den 68ern gestoßen bin, das mich sehr erheitert hat. Die knappen Texte waren in einem wegen seiner betonten Antiprüderie leicht verkrampft wirkenden Stil verfasst, während die freizügigen Fotografien eine Familie in verschiedenen Alltagssituationen zeigten (unter der Dusche, im Bett usw.). Das Ganze wirkt auf heutige Betrachter eher aufgesetzt und in Verbindung zum Text unfreiwillig komisch. Übrigens, findest du nicht, dass der Leitspruch der Bewegung: „Wer zweimal mit der gleichen pennt, …“, ein ziemlich bescheuerter Macho-Spruch ist? Das wage ich dich jetzt so charmant zu fragen, da du dich ja –wie du schreibst- nicht wirklich dran gehalten hast 😉
    Schönen Gruß
    Susanne

  159. Lesenswert zu Aly’s „Mein Krampf“: Rudolf Walther’s Rezension im heutigen freitag 10:

    http://www.freitag.de/2008/10/08101701.php

    Auszug:

    „Für den Historiker Aly könnten ein paar seltsame Fauxpas nachhaltige Wirkungen haben. Kein Leser ordentlicher Zeitungen bezeichnet heute die Übertragung der Macht an Hitler durch die gesamte konservative deutsche Elite noch als „Machtergreifung“. Und während Aly in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch noch über Hitlers „Gefälligkeitsdiktatur“ improvisierte, tauft er sie nun situationsgerecht in „mörderische Jugenddiktatur“ um, allein um sie mit der Jugendrevolte von 68 wenigstens in einen suggestiv-rhetorischen Zusammenhang bringen zu können. Mit solchen Mätzchen und substanzloser Polemik ruiniert Aly seinen Ruf ebenso wie mit Thesen wie der, die Vorliebe der 68er für Fremdwörter zeuge davon, dass sich diese „präpotenten Wahnsinnigen“ von deutscher Sprache und deutscher Nation verabschiedeten.“

  160. @ Abraham 130

    „Heinrich, Uwe Theel, sind meine Erinnerungen so falsch?“

    Lieber Abraham,

    über deine Erinnerungen kann man ja nicht streiten. Wohl ab er über den sachlichen Gehalt deiner Darstellung, und der ist so tendenziös und einseitig, dass man ihn getrost zusammenfassend als falsch bezeichnen kann. Da weiß man gar nicht, wo man anfangen soll.

    Ich übte damals wie heute keine blinde Solidarität, sondern informierte, die galt Anfang der 70er vor allem der Unidad Popular in Chile. Am Tag des CIA-gestützten blutigen Putsches der Obristen unter Pinochet war ich in Paris auf dem Volksfest der eurokommunistischen antistalinistischen KP und habe auf einer großen Wiese mit zweihunderttausend Leuten ergriffen der chilenischen Gruppe Quilapayun gelauscht, die zum Fest eingeladen war und anschließend im Pariser Exil blieb. Zur Beschäftigung mit dem Nahost-Konflikt kam ich erst Mitte der Siebziger. Hier einige Antworten aus der damals gewonnenen Sicht:

    1. Die zionistische Besiedlung Palästinas war ja keine Auswanderung wie die der verfolgten Hugenotten nach Preußen, wo sie willkommen waren und sich integrierten, sondern war von vornherein eine besondere Art von Kolonialismus, mit dem Ziel, die ansässige arabische Bevölkerung nicht auszubeuten, sondern systematisch zu verdrängen und ggf. zu vertreiben. Die Führer des Zionismus waren keineswegs ausschließlich Sozialisten, sondern darunter gab es einflussreiche Leute, wie Jabotinski, die richtige rassistische Faschisten waren und ein Groß-Israel beiderseits des Jordan anstrebten. Spätere Ministerpräsidenten, wie Begin, waren direkt von ihm beeinflusst, und die exterritorialen jüdischen Sidlungen im Westjordanland sind nichts als die konsequente Fortsetzung der damaligen Siedlungspolitik mit dem Ziel der annexionistischen Expansion.

    2. Den Palästinensern wurde von Ägypten und Jordanien nicht ein eigener Staat verweigert, sondern sie hatten gute und von internationalen Völkerrechtlern, auch von Beteiligten am UN-Teilungsplan, geteilte Argumente gegen die Errichtung des Judenstaates auf palästinensischem Boden. Dass sie aus heutiger Sicht gut daran getan hätten, in dem von der UN dafür vorgesehenen Gebiet einen arabisch-palästinensischen Staat zu etablieren, statt sich nun erfolglos um einen unendlich kleineren und zerstückelten Flickenteppich zu bemühen, steht für die Beurteilung der damaligen Lage auf einem anderen Blatt, ebenso wie die fragwürdige Gründung Israels der heutigen völkerrechtlichen Legitimität keinen Abbruch tut.
    Das gilt aber ausdrücklich nicht für die „Gebiete“, die Israel seit 40 Jahren bewusst in einer völkerrechtlichen Grauzone hält. Würde es das Westjordanland, Galiläa und Samaria, annektieren, wären die Palästinenser israelische Staatsbürger und würden dort die Mehrheit stellen. Würde es als das deklariert, was es ist, nämlich ein militärisches Besatzungsgebiet, wären bewaffnete palästinensische Kräfte Kombattanten und sie und das besetzte Gebiet müssten nach der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention behandelt werden, was die UN in mehreren von Israel ignorierten Resolutionen einfordert.

    Für die Beurteilung der völkerrechtlichen Frage spielt das subjektive Empfinden der Bevölkerung: Israel als Befreier, überhaupt keine Rolle, es sei denn, Israel hätte ein Referendum über die staatliche Eingliederung vs. Eigenstaatlichkeit herbeigeführt. Da steht der rechte Zionismus vor, der in seiner extremen Ausprägung vermutlich weiterhin auch noch das Gebiet von Jordanien beansprucht.

    Was heißt heute in diesem Zusammenhang schon Solidarität? Meine Solidarität gälte einem friedliebenden und Frieden schaffenden Israel in den Grenzen von mindestens von 1967, und einem ebenso friedliebenden Palästina in einem eigenen Staat mit gesicherten Grenzen ohne „Schutzwall“.

  161. Liebe Susanne,

    schön für dich, dass dein Leben bei der Versenkung ins Bett nicht nur aus der Versenkung in Bücher besteht!

    Ich hatte dich aber oben so verstanden, als sei die Liste der damals bevorzugten theoretischen Lektüre als solche von Interesse für dich. Ich bin übrigens auch ein eher intensiver als extensiver Leser, finde, man muss nicht viele Bücher, sondern die richtigen lesen. Habermas‘ „Strukturwandel…“ gehörte für mich dazu. Auf dein Urteil bin ich natürlich gespannt.

    „Macho-Spruch“: ich bitte dich, das ist doch wohl keine Frage! Und trotzdem: hatte der natürlich pointiert überspitzte Spruch nicht auch etwas Emanzipatorisches, im Hinblick auf die darin ausgedrückte Überschreitung der tradierten Ehenormen mit ihrer eingeengten und einengenden Sexualmoral? Mit dem Streben nach Befreiung hieraus handelten wir uns aber ein anderes Problem ein, welches für alle eruptiven Emanzipationsbewegung charakteristisch ist: dass nämlich das Gefühl dem, was der Kopf als neue Norm diktierte, durchaus nicht nachkam. Das galt zumal für die Eifersucht, die man sich bei einer derart libertinären Sexualmoral ja verbieten musste, was aber keineswegs bedeutete, dass sie sich nicht aufs heftigste regen konnte.

    Das voluntaristische Vorpreschen äußert sich dann eben in den von dir wahrgenommenen Künstlichkeiten und Verkrampfungen, nicht nur in diesem Bereich.

    Dazu seien dir folgende Verse aus dem Gedicht von Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“ gewidmet:

    (…)

    Ich wäre gerne auch weise.
    In den alten Büchern steht, was weise ist:
    Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
    Ohne Furcht verbringen
    Auch ohne Gewalt auskommen
    Böses mit Gutem vergelten
    Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
    Gilt für weise.
    Alles das kann ich nicht:
    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

    (…)

    Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
    Verzerrt die Züge.
    Auch der Zorn über das Unrecht
    Macht die Stimme heiser. Ach, wir
    Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
    Konnten selber nicht freundlich sein.

    Ihr aber, wenn es so weit sein wird
    Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
    Gedenkt unserer
    Mit Nachsicht.

  162. @ Abraham 130

    „Heinrich, Uwe Theel, sind meine Erinnerungen so falsch?“

    Abraham, entschuldigen Sie, wenn ich bisher nicht antwortete, heinrichs Beitrag hat mich daran erinnert, nachdem ich als hessischer Bürger mich doch in den Nachbarblogs zu den Wehen der Regierungsbildung hier im Lande etwas mehr geäußert habe.

    Ich kann zumal nach Heinrichs Äußerungen auch gar nicht mehr sehr viel Neues hinzufügen. Es ist fast anrührend von Ihnen und ihm gute (inhaltlich gesprochen) Teile meiner eigenen Bibliothek genannt zu bekommen.

    Was die politischen Erinnnerungen, die Intitalerlebnisse für mich in 1968 waren, so waren es zunächst überhaupt der Zugang zu linker Theorie in der Schule – wir hatten einen Lehrer, der bewirkte dies bei mir – die Arbeit des AUSS an der Schule und die damals nicht wirklich ausgetragenen Frage gegnüber meinem Vater, der mit 20 aus dem Krieg gekommen war, „Was hast Du getan, hast Du getötet?“ – Dann ging es über Wehrdienst, den ich dann verweigerte, nahtlos an die Universität in Frankfurt, wo die o.a. Lektüre und weiteres Studium der Politik beim alten Sozialkundelehrer und bei Prof. Ingeborg Maus die politische Theoriebildung auf feste Füße stellte. Prof. Heydorn tat dies für die Pädagogik. Natürlich waren Vietnamkrieg und Chile für mich die „großen“ Themen. Den Abtritt Nixons erlebte ich in den USA, bezüglich Chile hatte ich Kontakt mit einem Emigranten/Flüchtlingskreis in Darmstadt. Dann die Zeit der RAF bis zum „Deutschen Herbst“. Meine Auseiandersetzung mit Israel, den Palästinensern geschah, von heute aus betrachtet seltsam entfernt. Ich hatte keinerlei Kontakt zu Kreisen oder einzelen Menschen aus diesem Raum. Meine Kenntnisse zum Holocaust und mein Antifaschismus ließen mich – hoffe ich – immer zwischen „den Juden“ als Menschen und „dem Staat Israel“ als politischem Subjekt nach 1945/48 unterscheiden, letzteres sah, sehe ich von „staatswegen“ nach wie vor kritisch; mich bewegten immer die „regelmäßigen“ Kriege – gerade im Weltzusamenhang – dort mehr als der Konflikt Israelis-Palästinenser – Mein Vater, meine Mutter hatten DEN KRIEG überlebt. Ohne hervorragende Kenntnisse davon zu haben, kann ich sagen, dass der Konflikt dort erst in den letzten 15 Jahren für mich „näher“ gerückt ist seit den Golf-Kriegen und der jüngerer Entwicklungen in der türkischen Politik.

    Insgesamt spielte die doch wohl mehr emotinale besetzte Kategorie der „Sympathie“ im Nahostkonflikt nie eine wirkliche Rolle. Aber ich kannte persönlich damals einen MIR-Angehörigen, der dem Stadion entkommen konnte , da waren dann auch plötzlich „Gefühle gegen“ und „für“ im Spiel.

    Die Gefühlswelt jedenfalls, die ein Götz Aly jetzt auf den Marktplatz sich ergießen läßt, ist mir gänzlich fremd, sehe ich davon ab, dass ich es in den 80iger Jahren, als ich als ausgebildeter Lehrer, der bis 2000 als solcher arbeitslos war, es erleben muße, dass während einer verordneten Umschulung von „Arbeitslosen aus dem sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich“ zum Industriekaufmann und Betriebsinformatiker, praktisch alle – gegenüber mir ca. 3-5 Jahre jüngeren – Teilnehmer (abgebrochene Studenten), die alle einmal für sozial gerechte Dinge an- und eingetreten waren, innerhalb von wenigen Monaten, während der zwei Jahre dauernden Ausbildung alles leugneten, was wir damals „fortschrittlich“ nannten, wohl um sich zu rüsten, Stellung in einem Industriebetrieb zu erlangen, dort die „richtigen“ Ansichten und Einstellungen zu haben. Soviel ich weiss ist es ihnen damals allen gelungen.

    Gestatten Sie mir nun ihrer Diskussion wieder angeregt zu folgen, nachdem ich jetzt eine Mütze voll Schlaf nehmen sollte.

  163. Lieber Heinrich,
    oh, ich glaube du hast mich missverstanden. Ich habe mich über deine Bücherliste gefreut, wenngleich mir die Namen und Titel nicht völlig fremd sind. Vielen Dank. Mich hatte besonders interessiert, inwiefern die Auseinandersetzung mit der Theorie in den Diskussionen eine Rolle spielte. Darauf hast du mir ja auch eine persönliche Antwort gegeben. Ich interessiere mich deshalb so sehr für die theoretische Seite, weil mich die Frage beschäftigt, welche dieser philosophischen oder soziologischen Denkansätze heute noch relevant sind und in welcher Hinsicht sie die Wirklichkeit heute überhaupt nicht mehr beschreiben können. Wie ich ja schon an anderer Stelle schrieb, interessiert mich die Kritik an der Moderne zum Beispiel seitens der Frankfurter Schule sowie die Postmoderne-Diskussion. Mich überzeugt der Gedanke, dass sich mit Hilfe der „großen Erzählungen“ die Welt heute nicht mehr erklären lässt, die postmoderne Kritik trifft einerseits ziemlich stark mein Lebensgefühl was die Wahrnehmung des „Jetzt“ und der Außenwelt anbelangt. Andererseits nehme ich Geschichte als fortlaufende Erzählung wahr und konstruiere sie mir in Epochen. In meinem Kopf scheint Vergangenheit als Gesamtgebilde zu existieren, die Gegenwart zersplittert jedoch in ihrer Vielheit. Und das finde ich ausgesprochen seltsam.
    Als ich davon sprach, dass es auch noch etwas anderes gebe als die Versenkung in Bücher, dachte ich in erster Linie an verbale zwischenmenschliche Kommunikation, Heinrich, auch wenn du das natürlich gleich schelmisch umgedeutet hast. Ich wollte damit sagen, dass das Lesen von Büchern doch zu einer gewissen Isolation führen könne, sofern man es übertreibt.

  164. @ Heinrich # 170

    Lieber Heinrich,

    zuerst zu dem Teil, in dem sich unsere Biografien berühren: Auch mich bewegte der Putsch gegen die Volksfront in Chile, aber auch, da in „meinem“ Studentenwohnheim in München einige Griechen lebten, der Obristenputsch in Griechenland. Deshalb haben wir in diesem Studentenheim eine Gruppe von amnesty international gegründet.

    Nun zu unseren Differenzen: Nein, ich will Dir nicht weiter „blinde Solidarität“ vorwerfen. Allerdings halte auch ich Deine Sicht des Palästinakonflikts, wie sie sich aus Deiner Antwort ergibt, für tendenziös und falsch.

    1. Ich habe nie behauptet, dass die Führer des Zionismus ausschließlich Sozialisten waren. Natürlich spielten Bürgerliche (wie Herzl, Weizmann oder auch Buber) eine Rolle und natürlich gab es auch die „revisionistische“ Minderheit aggressiver Nationalisten, wie der von Dir erwähnte Jabotinski, später Begin und Schamir. Die (russischen) Sozialisten waren in der Führung des Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der Staatsgründung Israels) und in den ersten Jahrzehnten des Staates Israel aber die bestimmende Mehrheit.
    Die Frage, ob die zionistische Besiedlung Palästinas als „eine besondere Art von Kolonialismus“ zu bezeichnen ist, lässt sich nicht mit wenigen Zeilen klären. Für unzutreffend und historisch nicht belegt halte ich Deine Behauptung, das Ziel der Zionisten war es von vornherein, die ansässige arabische Bevölkerung „systematisch zu verdrängen und ggf. zu vertreiben“. Tatsächlich ist die anfängliche Einwanderung der Juden nach Palästina ähnlich wie „die der verfolgten Hugenotten nach Preußen“. Beides geschah mit Billigung der Obrigkeit (hier des preußischen Königs, dort der Behörden des Osmanischen Reiches) und auf legalem Wege, d.h. durch den Kauf von Grundstücken. Eine gewaltsame Aneignung arabischen Bodens war doch den Juden bis zum Ende des britischen Mandats gar nicht möglich. Die ersten jüdischen Besiedlungen, sei es die Gründung von Tel Aviv, der Bau von West-Jerusalem oder die ersten Kibbuzim, erfolgten ohne größere Konflikte mit der „ansässigen arabischen Bevölkerung“. Zu ernsten Auseinandersetzungen kommt es erst mit dem Auftreten der britischen Mandatsmacht nach dem ersten Weltkrieg, nachdem die Briten das Land sowohl den Juden als auch den Arabern versprochen haben und die beiden nationalen Bewegungen (nach der bewährten britischen Kolonialart) gegeneinander ausspielten. Dass dann Gewalt und Unrecht der einen Seite mit Gewalt und Unrecht der anderen Seite beantwortet wurde, haben die „neuen Historiker“ in Israel kritisch aufgearbeitet. Dazu zählt auch die Erkenntnis, dass es im 1948er Krieg nicht nur vereinzelte Massaker an der arabischen Bevölkerung und gewaltsame Vertreibungen gab. Zu einer „systematischen“ Vertreibung kam es aber auch da nicht, der Gegenbeweis ist die nicht kleine Zahl der in Israel verbliebenen Araber (wie in Akko und Haifa).

    2. Die völkerrechtliche Legitimität des UN-Teilungsbeschlusses werden wir ebenfalls nicht mit wenigen Zeilen ausdiskutieren; mir reicht aus, dass Du die heutigen völkerrechtlichen Legitimität Israels nicht in Frage stellst. Dass Ägypten und Jordanien nach 1948 die Bildung eines palästinensischen Staates verhindert haben, war ein politischer Fehler (wie Du feststellst), die Entrechtung der Palästinenser, die an den unwirtlichsten Stellen des Jordantals und in Gaza in Flüchtlingslager eingepfercht wurden, war hingegen ein Unrecht und eine Menschenrechtsverletzung seitens de arabischen Nachbarstaaten, die vor 1967 kaum seitens der westeuropäischen „Linken“ kritisiert wurden!
    Dass die andauernde Besetzung der 1967 eroberten Gebiete sowie die Siedlungspolitik ein Unrecht und ein politischer Fehler sind, das sieht so nicht nur die „linke“ Opposition in Israel, sondern inzwischen die Mehrheit der dortigen Bevölkerung so. Das Problem ist allerdings, wie ein Rückzug bewerkstelligt werden kann, ohne die Sicherheit der israelischen Zivilbevölkerung zu gefährden. Gaza ist dafür leider kein ermutigendes Beispiel.
    Israel hat in der Vergangenheit viele Fehler gemacht und macht sie immer noch, aber auch die andere Seite ist an der Fortsetzung des Konflikts nicht minder Schuld. Es ist zu einfach, aus sicherer Entfernung gute Ratschläge zu geben und kluge Kommentare zu schreiben, wie der Konflikt gelöst werden kann. Vor Ort sieht man, wie viel vielfältiger die Probleme sind und wie kompliziert jeder Schritt ist. Man sieht aber auch, wie viel an israelisch-palästinensischer Kooperation es vor allem in der intellektuellen Schicht schon gibt.

    Ich habe nichts gegen eine Solidarität mit den Palästinensern (wie sie z.B. die von mir unterstützten „Rabbis for Human Rights“ konkret üben) , wenn sie gleichzeitig auch solidarisch das Leiden und die Bedrängnis der Israelis in diesem Konflikt beachtet.

  165. an abraham und an alle die mitreden möchten:

    Ich habe bei der Zeitung freitag

    einen aktuellen Artikel des israelischen Schriftstellers und Journalisten Uri Avnery gefunden, der bezüglich der HAMAS versucht einen Einschätzung für den gegenwärtigen Friedensprozess zu geben, Titel:

    Der Feind ist kein Satan
    – Statt den Gaza-Streifen zu zerstören, sollte die Regierung Olmert mit Hamas verhandeln

    weiter hier:

    http://www.freitag.de/2008/10/08100201.php

    Können oder müssen Sie, abraham, dazu etwas kritisches sagen, ist der Artikel vernünftig ?

    Ich danke für eine mögliche Antwort.

    Uwe Theel

  166. @ Uwe Theel

    Diesmal vertritt Avneri, der sonst kaum für 5 % der (jüdischen) Bevölkerung Israels spricht, eine Meinung, die weit bis in die Mitte der israelischen Gesellschaft reicht (siehe auch Berichte und Kommentare von Inge Günter in der FR). Vermutlich ist Israel ohnehin an den Verhandlungen der Ägypter mit der Hamas (indirekt) beteiligt.

    Es ist allerdings zweifelhaft, ob Hamas an einer (dauerhaften) Lösung interessiert ist. Von der jetzigen Situation profitiert sie nur; egal wie Israel auf den Kassam-Beschuss reagiert, trifft es die palästinensische Zivilbevölkerung, wodurch eine Friedenslösung (die die Hamas ja gar nicht will) in die Ferne rückt. Je schlechter es den Palästinensern in Gaza geht, um so stärker kann sich Hamas als „soziale Bewegung“ profilieren. Außerdem wird in der Krisensituation die (auch religiös motivierte) Unterdrückung der Andersdenkenden seitens der Hamas in Gaza in den Hintergrund gerückt.

    Geht Israel Kompromisse (wie Feuerpause) mit der Hamas ein, so werden diese von Hamas als ein „durch Widerstand errungener Sieg über den zionistischen Feind“ propagandistisch ausgeschlachtet. Viele in Israel befürchten, dass die Hamas einen Waffenstillstand zur noch stärkeren Aufrüstung nutzt (wie die Hisbolah in Libanon, unter Weggucken der UNO), um dann noch gefährlicher zuschlagen zu können.

    Die Hamas ist primär eine religiöse Bewegung, die das „heilige“ Ziel der „Befreiung“ ganz Palästinas verfolgt. Anders als die sekuläre PLO wird sie, wenn sie sich nicht in Frage stellen kann, in dieser Frage keine wirklichen Kompromisse eingehen kann. Ihr Kampf ist der des „Märtyrers“ – der Kämpfer,aber auch die leidende Zivilbevölkerung werden im Jenseits für ihr Leiden „entschädigt“. Mit einem solchen Konzept sind „Kompromisse“ kaum möglich.

    Hinzu kommt, dass auch die Geldgeber und Waffenlieferanten der Hamas – die Syrer und die Iraner – an Kompromissen nicht interessiert sind.

    Wie der Konflikt zu lösen ist, weiß ich nicht.

  167. Bevor ich auf Abraham und den Palästina-Konflikt zurückkomme, hier erst einmal, ergänzend zu den von Fiasco angeführten Kritiken, als Ertrag von meinem Treffen mit ehemaligen Kommilitonen, die Rezension eines meiner Studienkollegen zu Götz Alys Buch über die 68er.
    http://www.zeit.de/2008/09/P-Aly

  168. @ Abraham # 174 et passim

    Lieber Abraham,

    „Ich habe nichts gegen eine Solidarität mit den Palästinensern (wie sie z.B. die von mir unterstützten „Rabbis for Human Rights“ konkret üben) , wenn sie gleichzeitig auch solidarisch das Leiden und die Bedrängnis der Israelis in diesem Konflikt beachtet.“

    Noch einmal, auch Persönliches, zur „blinden Solidarität“ mit den Palästinensern.

    1. Die 68er war, wie wir festgestellt haben, keineswegs eine homogene Bewegung. Ich gehörte nicht zum SDS und erst recht nicht später, wie Semler, zu einer der linksradikalen maoistischen K-Gruppen. (Was nicht ausschließt, dass wir alle von F.J. Strauß u.a. als Linksextreme diffamiert wurden. Dazu fällt mir nur J. Chr. Lichtenberg ein: „Vom Standpunkt der Tangenten und Sekanten aus gesehen liegt das Zentrum extrem“).

    2. Ich habe seit Anfang der 70er, wie erwähnt, in Marburg Politik studiert, mein Professor Reinhard Kühnl hatte 1973 eine Gastprofessur in Tel Aviv inne, kam zurück und warb um Verständnis z.B. für die israelische Besetzung der strategisch empfindlichen Golan-Höhen. Das war mein erster bewusster Kontakt mit der politischen Problematik. In diesem Zuge habe übrigens auch ich – man trifft ja immer wieder auf interessante Überschneidungen – den beachtenswerten Walter Grab kennen gelernt, den mit Kühnl ein freundschaftlich-kollegiales Verhältnis verband und der einmal an unserem Institut weilte.

    3. Die Empathie mit allen Menschen, die leiden und in Bedrängnis sind, ist ein Gebot der Humanität und ist nicht zu verwechseln mit dem politischen Begriff der Solidarität, der einen Schulterschluss von und mit ökonomisch Ausgebeuteten und politisch Unterdrückten meint. Die stellt sich bei mir eben nicht, das hatten wir aber ja geklärt, blind her, aber auch nicht auf der Basis von Sympathie, sondern von Information.

    Deine Solidarität mit den Palästinensern fordert mir größeren Respekt ab, als ich ihn erheische, da ich in einer viel neutraleren Position mich befinde. Ich habe eine längere Zeitlang zig Beiträge in einem Wissensforum zum Thema geschrieben, was mir irgendwann zu viel wurde, weil ich meine Beiträge als rationale Inseln in einem Meer von irrationalen und parteiischen wechselseitigen Angriffen von bedingungslosen Israel-Anhängern und Palästina-Freunden empfand, letztere z.T. nicht frei von einem gehörigen Schuss Antisemitismus, und ich, dazwischen, verteilte und erhielt Hiebe von beiden Seiten. Eine ziemlich militante Austro-Israelin schrieb mir irgendwann in einer Mischung aus Anerkennung und Unverständnis: „Du könntest gut Vermittler sein, man weiß nie, wo deine Sympathien liegen“.

    Ich habe das las Lob angesehen. Meine Solidarität mit den Palästinensern beruht jedenfalls nicht darauf, dass ich für sie eine größere Sympathie empfände als für die Israelis, erst recht nicht für Araber bzw. Muslime versus Juden, sondern sie beruht auf einem politischen Urteil über den Nahost-Konflikt, das ich in sachlicher Auseinandersetzung mit dem Thema erworben habe, und wenn du das für falsch hältst, kann es auch daran liegen, dass du die falsche Literatur benützt.

    Zur inhaltlichen Kontroverse, wo ich noch zwischen Eingehen auf deine Äußerungen im einzelnen und zusammenfassender Darstellung schwanke, später in einer Fortsetzung.

    Grüße erst einmal von
    Heinrich

  169. @ Abraham Fortsetzung

    „Für unzutreffend und historisch nicht belegt halte ich Deine Behauptung, das Ziel der Zionisten war es von vornherein, die ansässige arabische Bevölkerung „systematisch zu verdrängen und ggf. zu vertreiben“

    Die historischen Belege liefere ich dir gerne zuhauf nach, und zwar auch aus zionistischen Quellen, die in dieser Hinsicht Ideologie-unverdächtig sind. Zunächst einmal versuche ich es aber, da dies Zeit erfordern würde, noch einmal herum.

    Ich streite mich nicht um Worte, sondern um Sachverhalte, für die man möglicherweise, da Begriffe immer Allgemeines bezeichnen, im einzelnen auch noch treffendere Beschreibungen als „systematische Verdrängung und Vertreibung“ finden könnte.

    Beginnen wir so:

    „Die Mehrzahl der Führungsfiguren der zionistischen Bewegung und der späteren Staatsführung Israels kam aus Russland und war sozialistisch orientiert. Das ist wohl einer der Gründe dafür, dass Sowjetrussland die Pläne zur Gründung Israels unterstützte.“

    1. Für meinen wesentlichen Kritikpunkt ist es relativ gleichgültig, ob die zionistischen Führer ehemals Sozialisten waren. Als Führer in Palästina/Israel sind sie es jedenfalls nicht mehr in dem strengen Sinne, dass Sozialisten gegen das Kapital gerichtet sind und internationale Solidarität mit Arbeitern üben. Die „sozialistischen“ Zionistenführer unterschieden sich von den rechten und faschistischen nur in der Strategie, waren sich aber im Endziel: Der Errichtung eines Judenstaates beiderseits des Jordan (!). Wo da die arabische Bevölkerungsmehrheit ohne Verdrängung und Vertreibung hätte bleiben sollen, musst du mir erklären.

    2. Dass die Sowjetunion sich von Gesellschaften und in Ländern, die sie unterstützte, die Entwicklung einer sozialistischen und antiimperialistischen Perspektive erhoffte, ist sehr wohl anzunehmen. Aber wie wäre es in dem speziellen Fall damit, auch einmal die offiziell erklärte Begründung als ernstzunehmend in Erwägung zu ziehen? Der damalige sowjetische Uno-Delegierte und spätere Außenminister Gromyko erklärte im Mai 1947 in einer flammenden Rede vor der UN-Hauptversammlung, mit welcher er nicht unwesentlichen Einfluss auf die Stimmung der Delegierten in Bezug auf den Teilunsplan und damit die Errichtung eines Judenstaates in Palästina genommen hat:
    „Die Tatsache, dass kein westeuropäischer Staat im Stande war, die Verteidigung der Grundrechte des jüdischen Volkes zu gewährleisten und es vor der Gewalt der faschistischen Mörder zu beschützen, macht den Wunsch der Juden begreiflich, einen eigenen Staat zu gründen. Es wäre ungerecht, diesen Grund nicht mit in Erwägung zu ziehen und das Recht des jüdischen Volkes auf die Verwirklichung seines Wunsches zu leugnen.“

    3. Die jüdisch-zionistische Immigration in Palästina lässt sich mit nichts vergleichen, was einen ähnlichen Namen hat. Nach meiner Erinnerung postulierst du in Bezug auf türkische Immigranten hier, sie müssten die deutsche Sprache erlernen. Der Zionismus hat dagegen für die Juden in Palästina mit dem Hebräischen lieber eine tote Sprache reaktiviert, als ihnen das Erlernen des Arabischen zu empfehlen. Überhaupt waren diese vielfach erstaunt, dass sie dort überhaupt eine autochthone bevölkerung antrafen, hatten ihnen ihre Ideologen doch vorgemacht, es gehe bei der Besiedlung um ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.

    Tatsächlich wäre ein einzelner jüdischer Immigrant, die Zustimmung des Sultans hin oder her, weder als Bauer noch in einem sonstigen Gewerbe in der arabischen Umgebung überlebensfähig gewesen. Schon die frühen Siedler wären gescheitert, wenn sie nicht von dem Bankier Lord Rothschild unterstützt worden wären. Sie kauften Land mit seinem Geld und beuteten darauf arabische Arbeitskräfte aus. Das missfiel der Zionistischen Organisation, da sie das Konzept „jüdische Arbeit auf jüdischem Boden“ vertrat.

    Die Vorstellung, die deine kargen Sätze einem uninformierten Leser nahelegen, nämlich jüdische Siedler wären nach Palästina ausgewandert, hätten dort rechtmäßig Boden erworben und bewirtschaftet und insofern keinen Anlass für Konflikte mit den Arabern geboten, wäre in ihrer Naivität schon bemerkenswert.

    Tatsächlich hat die Zionistische Organisation Milliarden investiert in den Aufbau einer jüdischen Infrastruktur völlig neben der arabischen Bevölkerung vorbei aufgebaut wurde und in eine industrialisierte Landwirtschaft, die geeignet war, die in traditioneller Weise Produzierten Ansässigen niederzukonkurrieren.

    Die traditionelle Struktur sah so aus, dass feudalabhängige Fellachen den Boden gegen Abgaben an die Großgrundbesitzer bestellten, diese Effendis aber in Beirut oder Damaskus als Angehörige einer städtischen Notablenschicht lebten. Die Jewish Agency kaufte den Effendis, die darin eine profitablere Einnahmequelle sahen als in den bäuerlichen Abgaben, das Land ab, und die Fellachen mussten, gemäß dem genannten Prinzip „jüdische Arbeit…“ ihr Land leider verlassen. ein völlig legaler Vorgang, in der Tat, finde dafür einen anderen Ausdruck als systematische Verdrängung und Vertreibung.

    Dass dies natürlich auf Dauer den Widerstand der Araber hervorrufen musste, war absehbar, die zionistische Antwort darauf war nicht der Versuch, mit den Arabern ins friedliche Einvernehmen zu kommen – die ganz wenigen warnenden Stimmen, wie die von Martin Buber, wurden ignoriert, sondern die Inanspruchnahme der britischen Mandatsmacht gegen die Araber und flankierend der Aufbau einer eigenen Militärmacht, die erst später, als die Briten wegen der eskalierenden Konfliktlage zwischen Juden und Arabern restriktiv die Einwanderungszahlen beschränken wollten, sich auch gegen diese richtete. angesichts der Verfolgungen in Europa durch die Nazis eine tragische Situation, zugegeben, mit der jedoch die leidtragenden Araber nichts zu tun hatten.

    4. Dass auf arabischem Territorium, ganz gleich, ob es nun Palästina hieß oder Südsyrien, ein Judenstaat mit der Begleiterscheinung „ethnischer Säuberungen“, wie das heute heißt, ohne bzw. gegen ihre Zustimmung etabliert werden sollte, stieß auf empörten Widerstand der gesamten arabischen Welt, nicht nur Ägyptens und Jordaniens. Deren Politik war nach 48 ganz klar auf Revision orientiert, und das Elend der Flüchtlinge in den Lagern wurde für diese Politik eindeutig instrumentalisiert. Es sei aber doch, die Gewichtung geraderückend, daran erinnert, dass die Flüchtlinge dort „nur“ menschenunwürdig behandelt wurden. „Gemacht“ waren die Vertriebenen und Flüchtlinge von Israel.

    Fortsetzung und Schluss mit Blick auf die aktuelle Lage ggf. später.

    Grüße von
    Heinrich

  170. @ Heinrich/Uwe Theel

    Danke für Deine „Vorrede“ (# 179) zu Deinem Posting zum Zionismus (# 180). Um auf den letzteren zu antworten, brauche ich noch etwas Zeit. Das geht nicht in einer Arbeitspause.

    Ergänzen möchte ich meine Antwort # 177 an Uwe Theel: Nach einer Meldung der heutigen FR scheint sich in Gaza ein Waffenstillstand anzubahnen. Dafür zeigt der Bericht von Birgit Cerha (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/?sid=a018c90bc6e84a8e38d1e8604477716f&em_cnt=1301586), dass die Bedrohung Israels durch die Hisbollah steigt. Merkwürdigerweise sieht die FR-Autorin die steigende Kriegsgefahr nicht durch Waffenlieferungen der Iraner begründet, sondern weil Israel angeblich „seine Hegemonie in der Region unterstreichen und sein totales Abschreckungspotenzial wiederherstellen“ wolle. Dass der Waffenschmugel eine eklatante Verletzung der UN-Resolution (genauso wie die andauernde Geiselhaft der beiden entführte israelischen Soldaten) darstellt und eine Ohrfeige für alle Staaten ist, die sich an der UN-Friedenstruppe dort beteiligen (die ja die Wiederbewafnung der Hisbollah verhindern sollte), wird in dem Beitrag ebenfalls nicht thematisiert. Die UN und die EU schauen wieder einmal weg und lassen eine Situation entstehen, in der Israel zur militärischen Mitteln zur Selbstverteidigung wird greifen müssen. Dass dabei,angesichts der Stellungen der Hisbollah-Raketen in bewohnten Gebieten, wieder Zivilisten Opfer werden, nimmt man damit seitens der Wegguker zynisch in Kauf.

  171. @ Heinrich # 180

    Lieber Heinrich,

    sind wir uns zumindest darin einig, dass die Flucht und Vertreibung der Palästinenser sowohl die Folge der Gründung des Staates Israel als auch des daraufhin von den arabischen Nachbarstaaten begonnenen Krieges ist? Dass ich für das Entstehen der Konflikte auch den Zionismus mit verantwortlich mache, kannst Du meinen Verweisen auf die kritischen „neuen Historiker“ in Israel entnehmen. Allerdings erscheint mir Deine Meinung, der Zionismus habe das Ziel verfolgt, die ansässige arabische Bevölkerung „systematisch zu verdrängen und ggf. zu vertreiben“, zu sehr von dem letztlich Eingetretenen her interpretiert. Sicherlich gibt es Zitate, die eine solche Intention nahe legen, aber sprechen diese für die maßgebende Mehrheit und vor allem sind sie auch in zielgerichtete Handlungen umgesetzt worden? So schreibst Du, die Zionisten (ob Sozialisten oder Revisionisten) seinen sich in dem Endziel „der Errichtung eines Judenstaates beiderseits des Jordan“ einig gewesen. Nur: Hat es jemals praktische Versuche gegeben, den Jischuv (das vorstaatliche jüdische Staatswesen) auch jenseits des Jordans zu etablieren? Als die Briten von dem Mandatsgebiet Palästina Transjordanien (das heutige Jordanien) abgetrennt haben, hat es dort jedenfalls keine jüdischen Siedlungsgebiete gegeben.

    Was den Landerwerb durch den Jüdischen Nationalfonds betrifft, so betraf dieser nicht nur den von abgabepflichtigen Fellachen bewirtschafteten Boden, sondern auch Land, das erst von den jüdischen Pionieren urbar gemacht wurde. Möglich ist, dass die Verdrängung der Fellachen von dem durch sie bewirtschafteten (fremden) Boden auch ohne die jüdische Einwanderung als Folge der Umwälzung der feudalen „Landordnung“ geschehen wäre (ein Prozess, der ähnlich auch in Europa abgelaufen ist). Jedenfalls sind diese Menschen nicht aus dem Land vertrieben worden, sondern wurden zu (landwirtschaftlichen oder städtischen) Lohnarbeitern. Die „jüdische Arbeit auf jüdischem Boden“ war nämlich mehr ein Ideal (das konsequent nur die Kibbuzim hochgehalten haben, auch wegen der sozialistisch begründeten Ablehnung der ausbeuterischen Lohnarbeit), nicht aber die wirtschaftliche Wirklichkeit. So weit ich die Wirtschaftsdaten Palästinas kenne, hat es (auch durch die jüdische Zuwanderung und den Zufluss des von den Zionisten für den Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens in Europa und Amerika gesammelten Geldes) Anfang des 20. Jahrhunderts in Palästina einen ökonomischen Aufschwung gegeben, der sogar zu einer arabischen Zuwanderung führte. Bekanntlich war Palästina unter den Ottomanen (nachdem es schon von den Römern verwüstet wurde) lange eine höchst vernachlässigte, wirtschaftlich rückständige und relativ dünn besiedelte Randprovinz (aber natürlich nicht ein „Land ohne Volk“, das haben aber auch die meisten jüdischen Zuwanderer der ersten Jahrzehnte gewusst, von denen viele neben Hebräisch auch Arabisch gelernt haben, was sich dann aber spätestens in den 30er Jahren geändert hat). Du magst mich für naiv halten, ich kenne aber keine Berichte, dass die Gründung Tel Avivs, Westjerusalems und der ersten Kibbuzim zu größeren Konflikten mit den Nachbahren geführt hat. Die Spannungen steigern sich dann aber mit der zunehmenden jüdischen Zuwanderung und mit dem aufwachenden arabischen Nationalismus (der eine genauso „junge“ nationale Bewegung wie der Zionismus ist), woran die Briten keinen geringen Anteil hatten. Ich nehme an, dass Du auch nicht bestreitest, dass der arabische Widerstand schon in den 20er Jahren von Terror gegen Zivilisten begleitet wurde (wie dem Pogrom in Hebron, der zur Vertreibung einer seit der biblischen Zeit dort an den Patriarchen-Gräbern ansässigen jüdischen Bevölkerung führte). Nur zwei Sätze noch zu der Situation während der 30er und frühen 40er Jahre: Dass die Briten aus „Rücksicht“ auf die Palästinenser das Land den vor der Nazi-Verfolgung Flüchtenden versperrt haben, ist nicht den Palästinensern anzulasten. Dass sich ihr geistiger Führer, der Mufti von Jerusalem, den Nazis angedient hat und dass auch die Sympathien der Palästinenser den Nazis galt (nach dem Motto: Der Feind unseres Feindes ist unser Freund, aber noch heute können deutsche Besucher von Palästinensern gelegentlich die „freundliche“ Begrüßung hören: „Deutschland gut, Hitler gut“), war deren Entscheidung.

    Soweit für heute Abend, auch ich mache jetzt einige Tage Pause.

    Schöne Grüße von Abraham

  172. @ 181.Abraham

    Ich danke Ihnen sehr, für Ihre beiden Antworten, Abraham.

    Besonders berührt hat mich die zweite. Wie beriets gesagt, ich bin kein Nahost-Experte. genausowenig will ich auch nur den Eindruck erwecken, ich wollte Menschenlebenbedrohung gegen Menschenlebenbedrohung aufrechnen, aber es stellen sich mir anhand auch ihrer Antworten die folgenden Fragen:

    Natürlich soll niemand weckgucken, wenn das Leben von Menschen, zumal durch Krieg, bedroht ist. Aber mir ergibt sich der Eindruck, dass der Staat Israel das vergossene oder auch nur bedrohte Leben auch nur eines einzigen seiner Soldaten (oder Siedlungsbewohners) zum casus belli im ursprünglichen Sinne des Wortes zu machen gewillt ist.

    Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber die Zeiten, da ein Ägypten tatsächlich einmal es tatsächlich vorhatte, Israel kriegerisch zu erobern sind doch vorbei? Sind die Worte und Taten der Iranischen Führung wirklich so ernst zu nehmen, wie der „Verteidigungswille durch Krieg“ innerhalb maßgeblicher Kreise der israelischen Führung und wahrscheinlich auch der Wirtschaft? – Kann, solange ein wie immer auch gearteteter Kriegswille auf seiten des Stärkeren, und das ist ja wohl Israel, herrscht, Frieden werden?

    Damit zur Zweiten Frage:

    Sie schrieben, da seien die Weggucker (EU und UN – die USA erwähnen Sie nicht? ), die die Gefahr nur noch Größer werden ließen, indem sie weggucken, statt zu sehen, wie bedroht Israel sei. (Ich verstehe Sie so richtig?).

    Ich will dieses Weggucken nicht wegreden. Aber ist es nicht so, dass EU und USA in guten Teilen Israel mit Geld und Waffen versorgen, die schreckliche Kriegsdrohung glaubhaft zu halten. Ist dass nicht, zugespitzt gesagt, der Preis, den sie glauben zahlen zu können, um weggucken zu können? Eine „Investition“, die sich – zynisch genug – sogar noch auszahlt für EU und USA – Israel ist ja de facto „pleite“. Müssten EU, UN, USA noch weggucken, wenn Sie statt dessen einen Frieden aufbauten?

    Ist diese Aufrüstung durch „den Westen“ noch gerechtfertigt nach dem „Zusammenbruch“ der Sowjetunion? Reichte immer schon das ÖL dort?

    Ich bin kein Kenner und ich schaue nicht weg. Meine Sympathien, meine Solidarität liegen bei unschuldig leidenden Menschen.

  173. @ Uwe Theel

    Lieber Uwe Theel,

    sicher ist Israel von keinem seiner Nachbarstaaten direkt militärisch bedroht (derzeit wohl auch nicht von Syrien, trotz vorhandener Spannungen). Die von der Hisbollah ausgehende Gefahr ist trotzdem sehr real. Meist beschränkt sich die Hisbollah (wie vor dem letzten Libanon-Krieg) auf „Nadelstiche“ (einige Raketen auf grenznahe Orte, Entführungsversuche, Anschläge gegen jüdische (!) Einrichtungen im Ausland usw.). Im letzten Libanonkrieg haben die Angriffe auf Haifa (wo ich die ausgebombten Häuser gesehen habe) und andere Orte (darunter auch solche, die von israelischen Arabern bewohnt sind), die fast ausschließlich Zivilisten trafen (ich weiß, die Opferzahlen und Verheerungen im Libanon waren viel schlimmer, was zur Hisbollah-Taktik gehörte), das Ausmaß der Bedrohung klar gemacht. Die Hisbollah verfügt über ein Waffenpotenzial, das zwar Israel nicht auslöschen kann, aber in dem kleinen Land (schauen Sie sich die Entfernungen auf der Karte einmal an) hunderte (wenn nicht tausende) von Menschen töten kann. Daher gebietet es die militärische Logik zuzuschlagen, bevor der Feind zuschlägt. Nicht der direkte Anlass (zuletzt Katjuschabeschuss der Grenzorte und die Tötung einiger sowie die Entführung von zwei Soldaten) ist für den Zeitpunkt des Angriffs entscheiden, sondern das Ausmaß der künftigen Bedrohung. Der Krieg gegen die Hisbollah zeigte, dass Israel über keine Mittel und Strategien verfügt, um in einem solchen asymmetrischen Krieg „angemessen“ (also auch ohne zivile Opfer auf der Gegenseite) zu agieren. Auch deshalb ist ja die Staats- und Armeeführung in Israel erheblicher Kritik ausgesetzt.

    Um die militärische Logik zu durchbrechen, braucht es politischer Alternativen. Nun gibt es aber zwischen Israel und dem Libanon (seit dem 2001 (?) erfolgten vollständigen Rückzug aus Südlibanon) keine ungelösten Fragen, so dass Israel auch keine politischen Kompromisse anbieten kann. Die Hisbollah bekämpft (mit Unterstützung und im „Auftrag“ ihrer „Paten“ Iran und Syrien) Israel, weil es seine Existenz ablehnt – welchen Kompromiss sollte Israel eingehen? Daher müssen diejenigen, die eine nichtmilitärische Lösung verlangen (und das sind die Europäer und „die“ UN), entsprechend handeln und bereit sein, die Hisbollah effizient „im Zaum“ zu halten. Dazu wäre sowohl erheblicher politischer (und wirtschaftlicher) Druck auf Syrien und den Iran (statt dessen machen die Europäer Ölgeschäfte mit dem Iran – ist das nicht „Blut für Öl“?) sowie konsequentes Handeln der UN-Truppen entsprechend ihrem Mandat in Libanon nötig. Es reicht aber nicht, entlang der Küsten zu patrouillieren, während Hisbollah Waffen über Syrien schmuggelt und iranische „Instruktoren“ ins Land holt. Ich fürchte, dass die Europäer (und auch die Friedensbewegung) erst wieder aufwachen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.

    Nochmals: Ich verteidige die „militärische Logik“ nicht, nur muss man dann politische Alternativen entwickeln. In diesem Punkt werden die Europäer ihrer Verpflichtung, die sie mit ihrer Beteiligung an der UN-Friedenstruppe übernommen haben, nicht gerecht.

  174. @ 184. Abraham

    Ich kann und will gar nicht auf Teufel komm raus Ihrer Bedrohungsanalyse widersprechen, ich lasse jetzt auch einmal für den Augenblick die israelische Seite, wo sie mir kritikwürdig erscheint außen vor. Da bleibt mir dann aber immer noch mindestens eine Frage:

    Die USA gelten (mit Recht?) gemeinhin als „Schutzmacht“ Israels – auf die UN will oder kann sich anscheinend in der Region niemand verlassen -, sie gelten gleichzeitig immer noch als „letzte“ Weltmacht.

    Ferner: Wenn es so ist, dass Israel zu stark ist, zum Unterliegen, zu klug ist, um militärisch zu siegen – bei Inkaufnahme von unzähligen unschuldigen Toten -, aber auch zu schwach ist, um einen Frieden durchsetzen zu können (weil die Eu und die UN weggucken?), welche Rolle spiel(t)en dann Ihrer Meinung nach die USA (unter Bush), und warum? – Wird sich daran unter derer neuen Präsidentschaft (in Abhängigkeit des Siegers?) etwas ändern?

  175. @ Uwe Theel

    Fast alles kritische, was Sie über Israel lesen wollen, finden Sie in israelischen Medien (z.B. unter http://www.haarez.com).

    Ich sehe im Augenblick nicht, dass Israel zu klug wäre, militärisch zu siegen. Kann man gegen Terror militärisch siegen? Haben es die Briten in Nordirland geschafft? Dort hat es eine politische Lösung erst dann gegeben, nachdem die IRA ihre Waffen niedergelegt hat, weil ihre eigene Anhängerschaft der Gewalt müde wurde. Die militärischen (polizeilichen) Mittel gegen Terroristen, die sich hinter ihren eigenen Frauen und Kindern verstecken, kennt niemand, auch die USA nicht.

    Die USA können als „Schutzmacht“ Israels gegenüber Staaten wie Syrien oder Iran (letzteres mit Einschränkungen) wirksam sein. Gegenüber der Hisbollah können sie wenig ausrichten.

    Was insgesamt die Israel-Palästina-Politik der USA betrifft, war diese unter Busch erstaunlicherweise moderat, mit Druck auf beide Seiten. Dies wird sich auch unter neuer Führung nicht ändern.

    Erwarten Sie von mir keine Lösungsrezepte; mir geht es nur darum darauf aufmerksam zu machen, dass die Lage in Israel komplexer ist, als es hierzulande meistens wahrgenommen wird.

    Aber das muss jetzt reichen. Wie angekündigt, mache ich die nächsten Tage Pause, da ich verreist bin (zu einer Konferenz, an der auch Vertreter der Rabbis for Human Rights teilnehmen).

  176. Lieber Abraham,

    Danke für Ihre Ausführungen.

    (Ich erwarte auch keine Lösungen, aber vielleicht doch immer wieder ein Stückchen mehr Einsicht.)

    ich wünsche Ihnen eine gute Reise und Heimkehr.

  177. Alle Achtung vor den vielen historischen Betrachtungen. Ich lerne hier sehr viel. Palästina und Israel sind mir auch ein Herzensanliegen. Aber ich sehe keinen Ausweg, solange alle Seiten die Wunden und den daraus resultierenden Hass, der immer wieder neu geschürt wird, nicht überwinden können. Immer wenn ein Kind durch Bomben stirbt, wird neuer Hass auf beiden Seiten erzeugt. Das ist nicht gut.

    Ich liebe Barenboim, weil er durch seine musikalischen Projekte das menschlich Verbindende fördert, Musik, Kunst, das sind vielleicht die wirklich friedensstiftenden Elemente. Die Logistik der Militärs ist aus meiner Sicht völlig falsch.

  178. Vielen Dank an Bronski, dass er diesen Fred (so heißt es woanders im FR-Wohnsinnsblog) nicht geschlossen hat. Hier gibt es doch ein Nachdenken, dass mir lange gefehlt hat.

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