Die Großindustrie und das Vertrauen

Man kann staunen, wenn die FR titelt: „Wirtschaft klagt über Bürger„. Warum tut die Wirtschaft das? Nun, Hans-Peter Keitel, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, hat der FR ein Interview gegeben, und darin sagt er unter anderem: „Wir haben im weltweiten Vergleich eine einmalige Beteiligung von Bürgern und Verbänden (…) Manchmal müssen wir aber überlegen, ob das nicht zu viel und zu langwierig ist und es am Ende sogar mehr schadet als nützt.“ Durch die „starke Öffentlichkeitsbeteiligung“ verlängerten sich die Genehmigungsverfahren derart, dass bei deren Abschluss der technische Fortschritt die Bedingungen grundlegend verändert habe.

Stuttgart 21 lässt grüßen. Anderthalb Jahrzehnte hat die Vorbereitung des Projekts gedauert, und jetzt, da es endlich losgehen soll, bleiben die Bauarbeiten im Bürgerprotest stecken. Zwar heißt es, dass das Projekt alle parlamentarischen und rechtsstaatlichen Hürden genommen habe, so dass alles legal sei. Da kümmert es Herrn Keitel nicht, wenn im Nachhinein ruchbar wird, dass die Bahn offenbar allzu viel schöngerechnet hat. Die Bürgerinnen und Bürger haben trotzdem den Mund zu halten. Dass sie diejenigen sind, die das Projekt letztlich bezahlen, kümmert Keitel offenbar nicht. Politikverdrossenheit ebenfalls nicht.

Die FR-Leser sind empört. Dr. Werner Lüdtke aus Landau schreibt:

„Die Wirtschaft klagt über Behinderung durch Bürger. Andererseits geniert sich die Wirtschaft nicht mit Lobbyarbeit massiv Einfluß auf die Regierungstätigkeit zu nehmen, schreckt nicht zurück vor Drohungen (“ Verlust von Arbeitsplätzen“), hofiert Politiker mit Aufsichtsratsitzen und hoch dotierten Stellen nach dem Ausscheiden aus der politischen Arbeit und formuliert sogar Gesetzestexte mit. Auf diesem Nährboden wächst ganz natürlich Mißtrauen. Wenn dann mündige Bürger ihre Interessen vertreten, klagt die Wirtschaft über Behinderung des Fortschrittes. Ist das nun Scheinheiligkeit oder Frechheit oder beides?“

Heinz Kapp aus Neu-Isenburg:

Wer sollte eigentlich wem dienen in einer freiheitlichen Demokratie?
Industrie ist neben Dienstleistung eine Grundlage für Wirtschaft, Investitionen, Arbeitsplätze. Sie ist notwendig und nicht Maßstab. Sie dient den Bürgern, nicht umgekehrt. Sie ist an Gewinn orientiert -was in Grenzen auch richtig ist- und selten an Gemeinwohl. Es sind nicht die Naturschutzverbände oder Bürger, die Planungen wesentlich verzögern. Beschleunigungsgesetze haben schon dafür gesorgt. Als ehemaliges Mitglied in einem Umweltbeirat kann ich nur sagen: Es sind schlampige, unvollständige Einreichungen, fehlende Prüfungen welche die Baugenehmigungsverfahren meist unnötig verlängern, auch das arrogante Nichtbeachten von alternativen Planungen die für zukünftige Generationen eine Lebensgrundlage lassen.
Gerade die Großindustrie ist es, die ihre eigenen Zusagen bricht und damit das Vertrauen, ob es nun schön gerechnete Kostenrahmen für Prestigeprojekte (Stuttgart21) sind oder ob es um das Nicht-Abschalten der gefährlichsten Atommeiler geht.
Der Bürger soll sich ausnehmen und für dumm verkaufen lassen, ob es das Verschleudern der Hälfte der erzeugten Energie in den Kühltürmen der Großkraftwerke ist oder die Abwälzung der Kosten für Asse und Gorleben auf die Steuerzahler, ebenso die Spritpreiserhöhungen der Ölmultis mit absoluter Sicherheit vor jedem Urlaub.
Das Misstrauen gegen die Großen, ihre Projekte und ihr Wirtschaftsgebaren ist selbst gemacht. Es sind nicht die mittelständischen Unternehmen und auch nicht das Handwerk die Uni-Abgänger jahrelang in unverschämt schlecht Praktikumsstellen ausnutzen oder Berufsanfänger als Trainee mehrfach gegeneinander zwei Jahre antreten lassen, das letzte aus ihnen herausholen, um vielleicht eine feste Stelle zu besetzen oder auch nicht.
Natürlich sorgt auch gerade diese Bundesregierung mit ihrer brutalen Klientelpolitik, wieder nur für die Großen, für Mövenpick, Atomindustrie, Pharmaindustrie usw. ebenfalls für eine Wiederbelebung einer Bürgerinitiativen- und Protestmentalität, für Misstrauen und Verdruss mit der hofierten Wirtschaft.
Der Staat ist zum Plündern denken besonders die Großen, dann zieht man weiter (Nokia, zockende Bankmanager).
Wir Bürger wollen unsere Bundesrepublik nicht als Selbstbedienungsladen betrachtet wissen bei dem die Bürger alles schön schlucken und zahlen. Ab einer gewissen Zumutung regt sich Widerstand. Und das ist gut so!“

Dr. Robert Karge aus Saarbrücken:

„Wir haben im weltweiten Vergleich eine einmalige Beteiligung von Bürgern und Verbänden“ – so der BDI-Präsident Hans Peter Keitel, und er stößt mit der Forderung nach “ geringeren Einspruchsrechten der Bürger(…) bei der Bundeskanzlerin auf offene Ohren“. Nun gibt es ja viele Länder – weltweit. Gemeint hat er sicher nicht unsere europäischen Nachbarn, nicht etliche lateinamerikanische Länder, in denen nicht nur Volksentscheide etwa über die Privatisierung von Wasser (z.B. Argentinien) möglich sind, nicht die Vereinigten Staaten, in denen während der Wahlkampfphase Obamas 152 Volksentscheide anstanden, oder auch nicht Kenia, wo just ein Volksentscheid über die Verfassung erfolgreich durchgeführt wurde – was den Bündesbürgern hierzulande seit 1949 so beharrlich versagt blieb wie generell der bundesweite Volksentscheid. Auch wenn der §20 GG von Wahlen und Abstimmungen spricht. Und auf Länderebene sind vielfach immer noch die Hürden so hoch, daß die „Beteiligung von Bürgern“ nur zu deren Frustration führt. Aber vielleicht dachte der BDI in die offenen Ohren der Kanzlerin an seinen und bestimmte andere Verbände sowie an Länder wie Nordkorea, den Iran, die Vereinigten Emirate, Saudia Arabien oder Kuba. Wo er recht hat, hat er halt recht. Wo nicht, nämlich hier, werden sich wohl die anstehenden Wahlen in den Ländern und im Bund zum Volksentscheid über den Volksentscheid mausern müssen.“

Sonja Biesdorf aus Frankfurt:

„Die Wirtschaft klagt über die Bürger? Und Frau Merkel hat dafür die Ohren offen? Na so was aber auch, dass die Bevölkerung sich wagt, aufzumucken und sich verstärkt wehrt. Liebe Politiker, liebe Bau-, Energie- Pharmawirtschaft und Konsorten, wir haben die Schnauze voll von Eurer Kungelei (modern: Lobbyismus). Es geht um’s Geld, dass uns permanent aus der Tasche gezogen wird. Deswegen gehen wir auf die Barrikaden. Wir zahlen doch die Zechen für die Deals: z. B. den Reibach der Pharmaindustrie mit der Schweinegrippe letzten Winter, die wahnsinnigen Kosten von Stuttgart 21, steigende Energiepreise für die nimmersatten Versorger, die auch gleich die Lagerung und Entsorgung für sie kostenneutral ans Volks weiterreichen usw.
Der Wirtschaft und Frau Merkel sei gesagt: Die Bürger sind aufgewacht und werden künftig hellwach ganz genau schauen, wohin die Reise geht.“

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3 Kommentare zu “Die Großindustrie und das Vertrauen

  1. Dreist!
    Vertreter der Wirtschaft monieren, dass die Bürger in Deutschland zu viele Einspruchsrechte haben und damit das Vorankommen der Wirtschaft – zumal auch im internationalen Vergleich – behindern. Diese Meinung von Hans-Peter Keitel, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ist ganz einfach dreist. Wenn ihm die Einspruchsrechte und Interessen der Bürger zu viel sind, dann sollte er wirtschaftliches Handeln wohl lieber in einem abgeschotteten Raum machen, oder gleich in China. Schlicht gefragt, was glaubt er eigentlich, wer er ist? Soll die Wirtschaft im Einklang mit der Politik am Bürger vorbei handeln (was oft genug geschieht)? Offenbar werden die Dinge nach einiger Zeit zu einem Selbstläufer und es wird vergessen, wo eigentlich die Grundlagen sind. Die Politik wird alle paar Jahre daran erinnert, dass es neben Lobbyisten auch den Wähler gibt, der ihr – zumindest theoretisch – empfindlich zusetzen kann. Die Wirtschaft scheint zu vergessen, dass auch sie den normalen Bürger braucht, spätestens dann, wenn es um Umsatz und Verkaufszahlen geht. Dann sind die Bürger, die jetzt gegen Stuttgart 21 protestieren wieder lieb und teuer, denn sie sollen schließlich letztendlich ihr Geld in die Shoppingmalls tragen, die dann auf dem Grundstück der Bahn entstehen sollen.
    Die Aussage von Herrn Keitel verweist auf eine fundamentale Zurückweisung bürgerlicher Interessen und die Nichtbereitschaft, sich darauf einzulassen, denn es könnte ja die eigenen Umsatzpläne durchkreuzen. Es ist kaum zu glauben, dass eine solche Aussage in der heutigen Zeit überhaupt denkbar ist.

  2. Es würde ja schon reichen, wenn die Wirtschaft ihre eigenen Zusagen seit 1004, die Ausbildungsplatzzahlen zu erhöhen, irgendwann einmal einhalten würde. Heute ist wieder so eine freiwillige Vereinbarung zwischen Regierigen und Wirtschaft geschlosen worden. Das geschah sicher in der irrigen Meinung, allezeit das entsprechende Gesetz nicht in Kraft treten zu lassen. Sich dann aber über die mangelnde Zahl der Fachkräfte öffentlich auszulassen, zeugt IMHO von Unverschämtheit, die kaum noch zu überbieten sein wird.

  3. nicht nur ein traum:
    die atomenergie und kohle-kraftwerke gehören der vergangenheit an. der ausstieg war nicht nur beschlossen sondern wurde längst durchgeführt. die energieversorgung wird über dezentrale anlagen mit einem intelligenten mix von regenerativen quellen sichergestellt. ein verteilungsnetz mit effektiven speichermöglichkeiten gewährleistet die lückenlose lieferung von strom-gas-wasser etc.. es ist selbstverständlich, dass die netze ebenfalls in bürgerhand sind. auf dem netz-plenum wird in einem demokratischen prozess nicht nur für nächstes jahr die angestrebte energie-menge geplant sondern auch der verwendungszweck der energie festgelegt. das bedeutet für die industrie, dass die herstellung von unethischen und umweltschädigenden produkten nicht mehr mit energie bedient wird und aus der angebotspalette verschwinden. genauso wird die verbrennungstechnologie für kraftfahrzeuge sanktioniert und die produzenten zum umdenken und weiterdenken bewegt. der glanz-erfolg des netz-plenums ist die entgültige und irreversible konversion jeglicher kriegs-mittel-produktion (nicht nur in deutschland) die vor kurzem noch 10%(deutschland) der weltweiten rüstungsproduktion ausmachte. damit die dukle zeit der korporatismus zwischen wirtschaft-kapital-politik-medien nicht mehr zurückkehren kann führen die bürger nach und nach alle arbeitsbereich in selbstverwaltete und solidarische kooperationen über.

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