TTIP: Für wen spricht Lucia Puttrich?

Die hessische Europaministerin Lucia Puttrich setzt im FR-Interview auf den „aufgeklärten Verbraucher“. Es ist ja mal schön, wenn unsere Politikerinnen so viel Vertrauen in die Menschen haben. Es ist aber nun mal so, dass die Verbraucher so aufgeklärt sein mögen, wie es nur geht, und dass sie sich trotzdem falsch verhalten. Zum Beispiel kaufen sie ja auch Lebensmittel, in denen zu viel Fett oder zu viel Zucker (oder beides) enthalten ist, obwohl sie wissen (müssten), dass beides im Übermaß nicht gut für sie ist.

Es geht um das Freihandelsabkommen TTIP, das derzeit zwischen Brüssel und Washington verhandelt wird und das, so argwöhnen Kritiker, in Europa zu umfassender Deregulierung auch bei den Lebensmitteln führen könnte. Da steht die Frage im Raum, wie man zwei völlig unterschiedliche Handelssysteme miteinander verzahnt. Während es in Europa üblich und vorgeschrieben ist, dass Hersteller die Unbedenklichkeit ihrer Produkte nachweisen müssen, bevor sie diese auf den Markt bringen, dürfen Hersteller in den USA weitgehend ungeprüft alles auf den Markt bringen, was ihnen Gewinn zu versprechen scheint. Der Markt regelt das dann schon. Und sollte sich herausstellen, dass ein Produkt gesundheitliche Gefahren birgt, ist es Sache des Verbrauchers, dies zu beweisen. Ich wüsste nicht, wie diese beiden grundverschiedenen Ansätze zur Deckung gebracht werden könnten.

Ist das der Grund dafür, dass zwischen Brüssel und Washington so lange verhandelt wird? Und so geheim? Es ist einem Leck in der EU-Verwaltung zu verdanken, dass die Öffentlichkeit überhaupt von diesen Verhandlungen erfuhr. Man fühlt sich an das ACTA-Abkommen erinnert, das ebenfalls geheim verhandelt und dann vom einflussreicher werdenden EU-Parlament abgelehnt wurde. Warum so geheim? Wenn dieses Abkommen gut für uns ist, kann der Segen doch auch offen kommuniziert werden. So aber entsteht zwangsläufig der Verdacht, dass da etwas ausgekungelt wird. Und in der Tat sieht es wohl so aus, dass mit TTIP eine Art Paralleljustiz entstehen soll, indem Wirtschaftsstreitigkeiten nicht etwa mehr vor den juristischen Institutionen der europäischen Länder austragen werden sollen, sondern vor geheimen, intransparenten Schiedsgerichte, vor denen die Konzerne ihre Rechte sollen durchsetzen können.

In den USA ist es mittlerweile gang und gäbe, dass Manager in die Politik wechseln und von der Politik zurück in hohe Positionen in der Wirtschaft. Daher ist es für die Amerikaner völlig normal, dass ihre Regierung derart vehement für die Interessen ihrer Konzerne auftritt. Nebenbei: Deutsche Politiker tun dies auch. Gerade erst hat Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in China Werbung für deutsche Autos gemacht. Er hat sich Arbeitsplatzsicherung in Deutschland als oberstes Ziel gesetzt. Die Frage ist also nicht in erster Linie, ob wir Europäer künftig Chlorhähnchen und Genmais genießen können, sondern ob wir den Systemwechsel wollen. Ich persönlich will ihn nicht und hoffe darauf, dass das EU-Parlament auch dieses Abkommen ablehnt. Denn, Frau Puttrich, wir haben nicht umsonst ein über Jahrzehnte gewachsenes System in Europa, das uns Verbraucher halbwegs zuverlässig schützt.

Lucia Puttrich setzt auf den aufgeklärten Verbraucher. Ich setze auf verantwortungsbewusste Politikerinnen.

Günter Steinheimer aus Dietzenbach meint:

Die Ministerin erweist sich als ziemlich unwissend. Sie spricht von einer großen Chance für die hessische Wirtschaft: Im Papier des zuständigen EU-Kommissars De Gucht ist ein Wirtschaftszuwachs von 0,49 % (!) errechnet. Sie spricht vom Abbau von Zöllen: Zwischen Deutschland und den USA gibt’s faktisch keine Zölle mehr. Sie spricht davon, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis(!) gibt, dass Chlorhühnchen schädlich sind: Wozu brauchen wir die denn? Auf diese plumpe Werbung für das „Geheim-Freihandelsabkommen“ hätten wir genauso gut verzichten können wie aufs Abkommen.

Dieter Murmann aus Dietzenbach hat Frau Puttrich sogar einen Brief  geschrieben:

„Sehr geehrte Frau Puttrich,
mit Verwunderung habe ich Ihr Interview mit der Frankfurter Rundschau zum Thema „Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der EU und der USA“ gelesen. Ohne auf die Details einzugehen, speziell Ihre Aussagen zum Nahrungsmittelbereich, die, freundlich ausgedrückt, sehr fragwürdig sind, hat mich eine Aussage von Ihnen besonders aufgebracht.
Sie halten es für populistisch, dass das Thema Investorenschutz im Zusammenhang mit TTIP kritisiert wird und das gleiche Thema bei den Verhandlungen mit Kanada, die kurz vor dem Abschluss stehen und bei weiteren 1400 bilateralen Abkommen, nie Thema war. Ich kann Ihnen die Erklärung dafür liefern und bin überzeugt, dass auch Sie den Grund dafür kennen aber verschleiern wollen. Da die Verhandlungen (auch mit Kanada) im Geheimen geführt werden und unsere Medien hier ebenfalls versagt haben, muss man sich nicht wundern, wenn ein so weitgehendes und strittiges Abkommen nie in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. Diskutiert wird erst, seit einige NGO’s von nicht so skrupellosen Kommissionsmitgliedern anonym Unterlagen aus den geheimen Verhandlungen zugespielt bekamen und somit eine Öffentlichkeit hergestellt wurde. Wahrscheinlich findet in der Kommission inzwischen eine Treibjagd nach diesen verantwortungsbewussten und gegenüber den EU-Bürgern loyalen Mitgliedern statt.
Grundsätzlich wurde das Instrument des Investitionsschutzes dafür geschaffen, dass in politisch instabilen Ländern der Dritten Welt, die Investitionen überhaupt einigermaßen abgesichert möglich sind. Auch das ist Ihnen bekannt, wurde aber im Interview von Ihnen bewusst nicht erwähnt. Es geht doch nichts über eine einseitige, manipulative Darstellung der Dinge. Ich glaube nicht, dass man die USA oder die EU als unsicheren Kandidaten für Investitionen bezeichnen kann. Darüber hinaus sind die Vorteile, die das Ifo-Institut „errechnet“ hat, mehr als fragwürdig und werden von einer Vielzahl von Experten als Kaffeesatzleserei bezeichnet.
Zu Ihrer Aussage, dass Sie über die Verhandlungen gut informiert sind, kann ich eigentlich nur lachen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie besser informiert wurden, als die Abgeordneten des EUParlaments. Außerdem kann es wohl nicht Aufgabe der Parlamentarier sein, sich jeweils in Einzelgesprächen über solche Verhandlungen informieren zu lassen. Dass Sie mit dieser Vorgehensweise zufrieden sind, zeigt mir nur, dass Sie auf keinen Fall die Interessen der Bürger vertreten und das EU Parlament wohl als nachrangig betrachten. Nach den bisher zugänglichen Informationen sind die EU-Parlamentarier, anders als Sie, mit der Information aus der Kommission absolut unzufrieden (geschwärzte Protokolle lassen sich nur schwer lesen).
Dass Sie anführen, dass nun Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit eingestellt werden (wie lange wird schon geheim verhandelt?) zeigt mir nur, dass die Information nie geplant war, sondern nur als Reaktion auf äußeren Druck langsam anläuft. Wenn Sie glauben, dass dieses Verfahren und der intransparente Umgang der Politik mit diesem Thema die Bürger für die EU einnimmt, werden Sie hoffentlich/sicherlich noch Ihr Waterloo erleben.“

Jürgen Seifert aus Hamburg:

„Die Kritik am Freihandelsabkommen mit den USA ist in Wirklichkeit fundamental, auch, wenn gerne die Beispiele Chlor-Hähnchen und Gen-Food benutzt werden. Wenn Frau Puttrich anführt, dass das Thema Investorenschutz bei den Verhandlungen der Freihandelsabkommen mit Kanada, Indien, China und Japan nicht thematisiert wurde, liegt es daran, dass diese Verhandlungen bislang immer noch ohne Beteiligung der Öffentlichkeit im Geheimen ablaufen. Details zum anscheinend fast fertigen Abkommen mit Kanada sind der Öffentlichkeit nicht bekannt. Bei den Abkommen mit Indien, China und Japan fehlte bis zu diesem Artikel jegliche Information in der Öffentlichkeit, dass überhaupt verhandelt wird.
Bei dem verharmlosenden Begriff „Investorenschutz“ wie ihn Frau Puttrich benutzt, steht in Wirklichkeit dahinter, dass Unternehmen, die z. B. Gen-Food oder Chlor-Hähnchen bei uns nicht verkaufen können oder keine Genehmigung zum Fracking in Deutschland erhalten, vor geheim tagenden privaten Schiedsgerichten nicht realisierbare geplante Gewinne vom deutschen Steuerzahler sich ersetzen lassen können.
Wie überheblich und undemokratisch ist das denn eigentlich? Und wie anmaßend und selbstherrlich sind die Verhandler in der EU eigentlich, wenn sie glauben dies geheim verhandeln zu dürfen? Wessen Interessen vertritt Frau Puttrich mit ihrer verharmlosenden Kommentierung als Ministerin für Europa-Angelegenheiten eigentlich?
Das, was wir mit den USA im TTIP-Abkommen nicht wollen, können wir selbstverständlich auch mit keinem anderen Land akzeptieren!“

Marianne Friemelt aus Frankfurt:

„Als „dümmstmöglich“ hatte die Grünen-Politikerin Angela Dorn den von Lucia Puttrich versemmelten hessischen Atomausstieg bezeichnet, der das Land möglicherweise noch bis zu 190 Millionen Euro kosten wird, weil Puttrich die Biblis-Abschaltung nicht gegen Klagen des Biblis-Betreibers RWE abgesichert hat.
Dümmstmöglich ist nun auch ihre Argumentation zum geplanten Freihandelsabkommen (TTIP) mit den USA, gegen das die Bürgerbewegungen inzwischen Sturm laufen. Ihr ist offenbar nicht bekannt, dass die Weltkonzerne sich durch das Abkommen das Recht sichern wollen, Regierungen zu Milliarden-Schadensersatzzahlungen zu verklagen, wenn diese Umwelt- oder Arbeitsschutzauflagen beibehalten, die den Interessen der Konzerne widersprechen. Für wen spricht Frau Puttrich? Ist sie von Bürgerinnen, die meist auch Steuerzahler sind, gewählt, oder steht sie auf der Gehaltsliste von RWE, Bayer, Nestle und Co.?
Ihre Argumentation ist so schwach, dass es einem die Tränen in die Augen treibt, wenn man bedenkt, dass diese Frau vor einigen Jahren wohl auch noch auf Staatskosten BWL studiert hat. Beschränkt sie sich doch weitgehend auf das Argument, dass die Europäer durch das Abkommen nun einmal deshalb von liebgewordenen Umwelt-, Arbeit- oder Lebensmittelschutzvorschriften Abschied nehmen sollen, weil ja auch die Amerikaner dies in Bezug auf Regulierungen bei Banken oder Arzneimitteln tun sollen.
Ja, geht’s noch? Bräuchte es nicht angesichts der ausufernden Macht der Großkonzerne MEHR und nicht WENIGER Regulierungen? Wie wäre es, wenn wir die Regulierungen der USA übernehmen würden und diese im Gegenzug unsere? Aber das kann Frau Puttrich sich nicht vorstellen. Sie setzt stattdessen auf den aufgeklärten Verbraucher, hat aber auf die Frage, wie es mit der Lebensmittel-Kennzeichnungspflicht steht, keine Antwort. Stattdessen fühlt sie sich von der Generaldirektion Handel der EU-Kommission bestens informiert, denn diese hat ja extra Personal für die Öffentlichkeitsarbeit eingestellt.
Wenn es nur Dummheit wäre, könnte man ja vielleicht durch bessere Information nachbessern. Leider drängt sich mir der Eindruck auf, dass das Ganze Methode hat. Bleibt nur noch die Frage ob der hessische Koalitionspartner (das sind nämlich die GRÜNEN!) es sich gefallen lässt, dass bei uns durch das TTIP alles eingerissen wird, was jemals gegen Umweltverschmutzung und Nahrungsmittelkontrolle aufgebaut wurde. Ur-grüne Anliegen – sollte man meinen. Aber: die Bewertung „dümmstmöglich“ stammt noch aus der Zeit, als die Grünen noch in der Opposition waren.“

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4 Kommentare zu “TTIP: Für wen spricht Lucia Puttrich?

  1. Wie oft habe ich schon den Satz gehört, wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu verstecken.
    Fakt ist, dass Leute, die Abkommen verhandeln und das vor der Öffentlichkeit geheim halten, offensichtlich einiges zu verbergen haben. Und was inzwischen dank engagierter Journalisten und wenigen Abgeordneten bekannt wurde, ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus. Wenn demokratisch legitimierte Politiker ein Gesetz verabschieden, das verhindert, dass gesundheitsschädliche Produkte auf den Markt kommen, dann sollen die davon betroffenen Wirtschaftsunternehmen vor Geheimgremien, nicht vor ordentlichen Gerichten, auf Schadenersatz für entgangenen Profit klagen können. Also werden dann irgendwann zum Beispiel Tabakkonzerne Profitverluste einklagen können, weil die Zahl der Nikotinsüchtigen zurückgeht. Absurder gehts kaum noch.
    Doch auch ein anderer Aspekt ärgert mich an dieser Geschichte:
    Wieso werden eigentlich diese Verhandlungen mit den USA nicht abgebrochen, solange uns die NSA in grossem Stil überwacht. Nichts gegen Wirtschaftsabkommen, aber mit solchen „Partnern“?
    Wie lange gebärden sich unsere Regierungsvertreter noch als Hampelmänner der USA? Gibt es nicht genügend Staaten auf der Welt, mit der sich Wirtschafts- und Politikbeziehungen auf Augenhöhe gestalten lassen? Beziehungen, die dann wirklich allen Beteiligten nutzen.
    Ich finde, die TTIP-Verhandlungen sollten sofort abgebrochen werden.

  2. (Europawahl und:) …und auch dieses Thema beschäftigt mich sehr… dennoch fällt mir nichts ein als die Petitionen zu unterschreiben von change org oder avaaz oder oder… ein bisschen nützt es vermutlich. Aber angesichts der täglichen Meldungen in den Medien habe ich eher den Eindruck, dass wir – die wir solche Petitionen unterschreiben – wieder mal als nur idealistische oder linke oder Öko-spinner wahrgenommen werden… Trotzdem mache ich weiter – im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ich mköchte so viel wie möglich dazu beitragen, dass TTIP nicht zustande kommt.
    Ich habe gerade (angeheiratete) amerikanische Verwandte hier (die keine Knarren im Nachtschrank haben und auch sonst anders ticken)… Aber wenn ’s ums Thema TTIP geht, halten sie mich einfach für ein bisschen „rückständig“. Naja… da gäb ’s noch viel mehr Stoff… der nicht zu diesem Blogthema gehört.

  3. Gleiches Recht für alle !
    Wenn die lobbybewaffneten Investoren, bei denen Steurvermeidungen jeder Art zu den Lebnensgrundsätzen gehört, geschützt werden, dann gilt dieses Recht in Demokratieen auch für die Arbeitnehmer und Kunden. Auch wenn wir erst durch whistleblower von den geheimen Absichten erfahren haben. (Übrigens: die jährliche Steuerhinterziehung beträgt rund 150Mrd./Jahr; diese scharf einegtrieben, dann bräuchten wir rechnerisch kein TTIP).

    Die massive Verschlechterung der Arbeitnehmerposition durch Einführung von Mini-und
    Zeitarbeit u.ä. ist im Wesentlichen genau das, wovor sich die Investoren schützen wollen.
    Nämlich die Schmälerung der geplanten Gewinne durch geänderte Gesetze.
    Bei den Arbeitnehmern ist das die Schmälerung der Löhne. Oder haben die Arbeitnehmer und Ihre Eltern etwa nicht in Erziehung und Ausbildung unter Opfern investiert? Verdienen die keinen Schutz?
    Tja Investoren, die Völker Europas werden adelsgleiche Unrechte vergangener Zeiten nicht hinnehmen. Zumal das verdiente Geld wieder in den Druck auf weitere Privatisierung
    gesteckt werden wird, weil auf den Finanzmärkten zu wenig verdient ist.
    Die Kunden werden schon jetzt um die Kenntnis der genauen Herkunft vieler Waren geprellt.
    Lt. Auskunft der Bundesregierung ist die desinformative Kennzeichnung vieler Waren
    bei Discountern mit: „Hergestellt für…“ gesetzlich rechtmäßig. Liebe Leser, nicht nur kaufen sondern auch Lesen ist wichtig. Die ehrliche Beschriftung wäre: letztlich hergestellt für den gesetzlich unmündig gemachten Bürger.

    Wie durchsickerte, ist geplant die US-Waren nicht mehr als US-Waren zu kennzeichnen,
    wenn die Kunden die Waren zu wenig kaufen. Das kann zu Genmais und Chlorhähnchen
    mit der Desinformation: „Hergestellt für…“ führen und wird es, da die amerikanische
    Agrarlobby den Markt als Kampfplatz auffasst, was im übrigen zu der amerikanischen Politik passt.

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