Schwungvolle Buchstaben

Der Strukturwandel macht vor nichts halt. Internet, E-Mail und SMS haben unser Leben in einer Weise verändert, die vor 15, 20 Jahren für die allermeisten von uns noch völlig unvorstellbar gewesen sein dürfte. Wir bemerken den Strukturwandel in unserer Arbeitswelt ebenso wie im Privaten, und die Entwicklung scheint sich immer noch zu beschleunigen. Ich fände es interessant zu lesen, was der Philosoph Günther Anders zu dieser Entwicklung sagen würde; er hat schon in den 50er Jahren die These vertreten, dass der Mensch andauernd Phantome erschafft, die er jedoch nicht begreift und auch nicht beherrscht, so dass er dazu verdammt ist, ihnen und ihrer Weiterentwicklung hinterherzulaufen.

Wie tiefgehend dieser Wandel ist, das vergessen wir in unserer täglichen Hetze gern. Doch es gibt ja immer mal wieder Nachrichten, die einen stutzen lassen. Kürzlich etwa in der FR: „Handschrift: Vom Aussterben bedroht„. Es geht hierbei um nichts weniger als um das Ende einer kulturellen Epoche, auch wenn der Artikel selbst vorrangig um die Frage kreist, welche Art von Handschrift Grundschüler heute lernen sollten. Bisher besteht Konsens darüber, dass sie mit Abschluss der vierten Klasse flüssig sollten schreiben können.

Aber wer braucht denn heute noch eine Handschrift? Und wozu? Um Einkaufszettel zu schreiben und PostIts zu beschriften? Wer schreibt heute noch mit der Hand? Von meinem Neffen bekam ich kürzlich eine Dankeskarte anlässlich seiner Konfirmation – zwar klassisch, mit der Post, aber die Karte war ein Fotodruck, nicht-handschriftlich. Dagegen gibt es tatsächlich noch FR-Leserinnen und -Leser, die mit der Hand geschriebene Leserbriefe hereinreichen. Es ist keineswegs immer das wahre Vergnügen, diese Zuschriften zu dechiffrieren. Ich selbst bin schon vor 25 Jahren dazu übergegangen, meine Texte und Romane am Computer zu schreiben. Das läuft in genau dem richtigen Tempo ab, in dem ein Gedankenfluss beim Schreiben zustandekommt. Dafür, dass ich sie wenig einsetze, ist meine Handschrift allerdings noch ganz ordentlich.

Das Erlernen einer Handschrift ist natürlich für Kinder alles andere als sinnlos. Es gilt als ein wesentlicher Beitrag zur Charakterbildung. Textverständnis, Auffassungsgabe und Ausdrucksvermögen lassen sich mit dem Erlernen einer Handschrift trainieren. Trotzdem kann es nicht darum gehen, die Kleinen mit kulturellen Relikten zu traktieren, die sie im Leben kaum mehr brauchen. Die Handschrift in der altgedienten Form wird bald komplett ausgedient haben. Unsere Kultur verändert sich schneller, als wir diese Veränderung begreifen, und wir können nichts dagegen tun. Wir können der Veränderung nur hinterherlaufen. Wir brauchen dennoch neue Rezepte und Konzepte, um die Kinder auf die Zukunft vorzubereiten. Es sei denn, wir wollten davon ausgehen, dass diese Zukunft eine sein wird, in der die Menschheit sich eher Richtung Steinzeit zurückentwickelt, weil der Klimawandel die Erde unbewohnbar macht.

Ich habe zwei bedenkenswerte Leserinbriefe zu dem oben verlinkten Artikel bekommen. Beginnen wir mit Sandra Ade aus Mühltal:

„Meine Gedanken kreisen um das „H“. Während ich noch den letzten Schwung aufs Papier setze, denke ich daran, dass (laut FR vom 24. Juni) „MAN“ eigentlich kaum noch mit der Hand schreibt. Damit sich die Grundschulen auf Anderes konzentrieren können, wird deshalb nun überlegt, den Kindern das Erlernen der (mühsamen) Schreibschrift vorzuenthalten. Jeder würde sowieso seine eigene Handschrift entwickeln, Bögen hin oder her.
Ich erinnere mich, wieder beim Formen eines schwungvollen Buchstabens, wie ich mit meiner Freundin früher seitenlange Briefe ausgetauscht habe. Wie wir immer neue Handschriften mit aufwendigeren Schwüngen ausprobiert haben. Wie ich die ersten Gedichtversuche, in der Absicht, die Welt besser zu verstehen, in einem kleinen Büchlein schwungvoll zu Papier gebracht habe. Die Gedanken konnten fließen, weil auch die Schrift flüssig war. Weil ich Zeit damit verbrachte, Bögen auszuformen. Und so meine Gedanken in Schwüngen zu sich kamen. Gerade in der Zeit der Sprach- und Lebensfindung konnten die Schreibgedanken Kreise ziehen. Auch heute noch schreibe ich vieles zuallererst von Hand, mit einem schönen Stift, auf weiches Papier.
Beim Üben der eigenen Handschrift mögen die Bögen dann oft doch wieder verschwinden, das mag sein und ist unerlässlich, wenn jeder seine eigene Schrift finden soll. Aber hinzu formen, wenn man sie nie erlernt hat, würde man sie nicht, oder?“

Meike Beier aus Heusenstamm:

„Ich finde es erschütternd, von Ulrike Jürgens als Geschäftsführerin eines Schulbuchverlages die Aussage zu lesen, dass das Erlernen des Schreibens mit der Hand angesichts der neuen technischen Möglichkeiten quasi überflüssig sei und man die Zeit besser für Medienschulung nutzen solle. Schreiben ist eine grundlegende Kulturtechnik, die schon allein deshalb, sowie natürlich als „Rückfalloption“, erhaltenswert ist. Das Schreibenlernen mit der Hand zwingt aber auch zu einer wesentlich intensiveren Beschäftigung mit der Form der Buchstaben als das bloße Abrufen über eine Tastatur, was natürlich mühsamer ist, aber eben auch zu einem echten Begreifen führt. Hinzu kommt die Entwicklung der Feinmotorik und der Koordination zwischen Hand, Auge und Gehirn.
Lernhürden umgangen
Die Tendenz, Schülern alles möglichst leicht zu machen und Lernhürden zu umgehen statt zu überwinden, führt dazu, dass Kinder nur noch oberflächlich lernen und wahrnehmen und mehr und mehr erwarten, dass alles sofort und mühelos auf Knopfdruck funktioniert. Die Auswirkungen davon kann man z. B. im Musikunterricht beobachten – viele Kinder sind nicht mehr in der Lage, ein Instrument zu erlernen, da man sich diese Fähigkeit im Wortsinne erarbeiten muss. Angesichts dieser Entwicklung könnten „Medienkompetenz“ und andere komplexe Fragestellungen bald hinfällig sein, da die dafür erforderlichen vertieften Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten zu verkümmern drohen.“

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2 Kommentare zu “Schwungvolle Buchstaben

  1. Die Entwicklung geht anscheinend zu einer zunehmenden Pimitivierung. Schrift einfacher machen oder abschaffen. Ist auch im Gebrauch der Sprache zu beobachten.
    Ebenso im Rechnen: Defizite.
    Ein Lehrer in der Grundschule 1984 in NRW: Orthographie, braucht man nicht. Diktate, braucht man nicht.

    Demnächst: (Bitte ironisch zu verstehen) Denken abschaffen, weil überflüssig. Stört nur die Politik.

    Statt dessen wischt man über das Display des smart phones. und sammelt neue Ideen.

    Ein Autograf von Kafka, Storm oder Fontane erreicht in einer Versteigerung Preise einer Blauen Mauritius.
    Das würde mich freuen, weil ich nahezu jeden Tag mich handschriftlich betätige … für einen Brief oder eine Notiz(kommt auch aus der Mode.

    Ein handgeschriebener Brief ist ein Unikat und keine triviale Selbstverständlichkeit. Das müsste erst allen Beteiligten erklärt werden.

    Ansichtskarten zu schreiben und auch zu verschicken, ist unmodern.Spießig! Uncool.

    So einfach ist das geworden.
    Doch wie stolz war man, das Schreiben erlernt zu haben. Was jetzt offenbar an Bedeutung verloren hat.

  2. Hoppla, mein Leserbrief ist im Bronski-Blog zu finden, da muss ich mich ja auch einmal zu Wort melden. 🙂

    Ich bin keineswegs ein Technik-Verächter. Mit der Hand schreibe ich mittlerweile auch eher selten – möchte diese Fähigkeit aber auf keinen Fall missen. In Besprechungen, Seminaren, bei Telefongesprächen usw. sind Informationen und Gedanken auf diese Weise einfach am schnellsten und einfachsten festzuhalten. Auch persönliche Dinge wie Glückwunsch- und jawohl, auch „altmodische“ Ansichtskarten aus dem Urlaub, schreibe ich prinzipiell von Hand. Ansonsten nutze ich aber natürlich, angepasst an meine Bedürfnisse, die Kommunikationsmöglichkeiten über Internet, E-Mail und SMS (aus Überzeugung allerdings kein Smartphone) und mein Berufsleben mag ich mir ohne die digitalen Möglichkeiten auch nicht mehr vorstellen.

    Ich bin allerdings der Meinung, dass man Computer & Co. nicht schon (Kleinst)Kindern nahe- und beibringen muss – oder auch nur sollte!

    Ich schätze mich als Angehörige einer glücklichen Generation ein, die noch im vor-digitalen, analogen und im doppelten Wortsinne be-greifbaren Zeitalter aufgewachsen ist. Gleichzeitig waren wir beim Beginn der verschiedenen digitalen Revolutionen, der allgemeinen Verbreitung von Heim-PCs, dem Internet, etc. noch jung genug, um uns die neue Technik ohne Probleme aneignen zu können.

    Da das bei meiner Generation funktioniert hat, kann ich nicht nachvollziehen, warum heutzutage angeblich schon in der Grundschule oder gar im Kindergarten „Computer gelernt“ werden muss, damit die Kinder diese Technik begreifen. Im Gegenteil sehe ich es als Vorteil an, erst später im Leben, mit einer analogen Weltvorstellung und einer gewissen intellektuellen Grundlage, damit konfrontiert worden zu sein. Dadurch konnte ich von Anfang an mit einem Verständnis von der Funktionsweise herangehen, statt das Gerät als „wundersame, unerklärliche Kiste“ einfach hinzunehmen, wovon ich mE noch heute profitiere, was das „Durchschauen“ der digitalen Abläufe betrifft. Und da ich erlebt habe, dass und wie die Welt „ohne“ funktioniert, kann ich besser einordnen, was wirklich nützlich ist, was ich wirklich brauche, und muss nicht jeder Neuerung wie ein aufgescheuchtes Huhn hinterherlaufen, nur weil es sie gibt.

    Natürlich ist es praktisch unmöglich und wäre anachronistisch, Kinder heutzutage von digitalen Medien fernzuhalten. Aber man muss es ja nicht auch noch forcieren und den Eindruck verstärken, dass es gar nicht anders geht, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die haptischen und körperlichen Erlebnisse, die so wichtig für die Entwicklung eines Selbst- und Weltbildes sind, bei vielen Kindern sowieso viel zu kurz kommen. Da sollte Schule doch lieber bevorzugt die „handwerklichen“ und intellektuellen Fähigkeiten fördern, die Kinder in die Lage versetzen, zu autonomen, verstehenden und ggf. eben auch kritisch hinterfragenden Nutzern der digitalen Technik zu werden. Denn zu Nutzern werden sie sowieso automatisch.

    Aber kann man das gewünschte Ziel nicht über den Einsatz digitaler Technik erreichen, die Kindern doch so viel Spaß macht, ihnen leicht fällt und sogar diejenigen zum Lernen bringen kann, die sonst nicht erreichbar sind? Vielleicht, aber mir stellt sich eben die große Frage, wie nachhaltig und ganzheitlich dieses Lernen ist. Alles in diesen Kisten ist nicht real, es ist eine eindimensionale Projektion, die nur mit einem kleinen Teil der Sinne wahrgenommen werden kann. Sie hat keine räumliche Ausdehnung, kein Gewicht, keine Textur, keinen Geruch, keinen Geschmack. Wie soll auf diese Weise die Welt be-griffen werden?

    Dazu kommt – neben der Instant-Befriedigung bei minimalstem Einsatz – dass zwischen Aktion und Reaktion eine „black box“ steht, deren Abläufe und Zusammenhänge sich der Anschauung und dem Nachvollziehen verweigern und die in der Regel noch nicht einmal von den Erwachsenen erklärt werden können.

    In der analog-mechanischen Welt sind es dagegen ganz einfache Beobachtungen, die es einem Kind ermöglichen, Zusammenhänge und Funktionsweisen zu begreifen. Z.B. bei Musikkassetten, bei denen man durch das Fenster das Aufwickeln des Bandes, schnell oder langsam, vorwärts oder rückwärts, verfolgen kann. Bei analogen Kameras der Zusammenhang Filmrolle -> Belichtung -> Negativstreifen. Oder mechanische Schreibmaschinen, wo der Tastendruck das jeweilige Ärmchen und das Farbband nach oben drückt und so einen Buchstaben auf’s Papier bringt.

    In der digitalen Welt tippt man dagegen irgendwo drauf und Musik spielt, ein Foto entsteht, ein Buchstabe erscheint. Warum genau, weiß keiner und es ist auch so „abgehoben“, dass eigentlich auch niemand motiviert ist, dem nachzugehen. Das Programm / die App macht es eben. Das Verständnis, dass zwischen Ursache und Wirkung Arbeit (im physikalischen Sinne) steht, geht verloren.

    In den Worten von Bronskis Analogie: Komplett oder weitgehend digital sozialisierte Kinder kommen vielleicht gar nicht mehr auf den Gedanken, dass es da überhaupt etwas zum „Hinterherlaufen“ gibt. Sie lassen sich einfach mitschwemmen, Hauptsache, die Instant-Befriedigung funktioniert…

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